Anne auf Green Gables
ich bin ja so stolz auf dich!«
Diana warf die Zeitung auf den Tisch und ließ sich auf Annes Bett fallen. Vor lauter Erschöpfung und Aufregung konnte sie nicht weitersprechen. Mit zitternden Fingern zündete Anne die Kerze an, wobei sie ein halbes Dutzend Streichhölzer verbrauchte, und griff dann nach der Zeitung. Ja, sie hatte bestanden - dort stand ihr Name als allererster von insgesamt zweihundert!
»Du hast es glänzend geschafft«, schnaufte Diana, die inzwischen wieder ein wenig Atem geschöpft hatte. »Vater hat die Zeitung erst vor zehn Minuten aus Bright River mitgebracht. Sie kam mit dem Nachmittagszug, mit der Post wird sie erst morgen früh hier sein. Als ich die Ergebnisse sah, bin ich gleich losgelaufen. Ihr habt alle bestanden, Moody auch, obgleich es in Geschichte bei ihm ziemlich knapp geworden ist. Jane und Ruby haben auch gut abgeschnitten, sie stehen ungefähr in der Mitte, und Charlie auch. Josie hat gerade mit Ach und Krach die erforderliche Punktzahl erreicht, aber sicherlich wird sie damit angeben, als sei sie Erste geworden. Denk nur, wie Miss Stacy sich freuen wird! Oh, Anne, was ist dafür ein Gefühl -dein Name als erster auf einer so langen Liste. Wenn ich das wäre, ich würde vor lauter Freude verrückt werden! Aber du bist so ruhig -ganz kühl.«
»Ich bin völlig durcheinander«, erklärte Anne. »Am liebsten würde ich hundert Dinge auf einmal sagen, aber ich finde gar keine Worte. An so etwas habe ich nie im Traum gedacht... oder doch ... einmal, da habe ich mich gefragt: >Was ist, wenn ich die Allerbeste werde?< Aber das erschien mir so eitel und anmaßend ... Entschuldige mich einen Moment, Diana. Ich muss hinaus aufs Feld laufen und Matthew von der Neuigkeit erzählen. Dann gehen wir sofort ins Dorf und berichten es den anderen.«
Matthew war schon seit den frühen Morgenstunden auf der Wiese hinter der Scheune und wendete Heu, als Anne zu ihm gelaufen kam. »Oh, Matthew«, rief Anne, »ich habe bestanden, und zwar als Erste -oder jedenfalls als eine der beiden Ersten! Ach, ich bin ja so froh!«
»Nun ja, ich habe es ja schon immer gesagt«, meinte Matthew und betrachtete sichtlich zufrieden die Liste in der Zeitung. »Ich wusste, dass du es leicht mit allen anderen aufnehmen könntest.«
»Das hast du sehr gut gemacht, Anne, das muss ich sagen«, lobte Manila, als sie von der Neuigkeit erfuhr. Sie stand gerade mir Mrs Lynde am Gartenzaun und versuchte, ihren großen Stolz auf Anne vor ihrer Nachbarin zu verbergen. Doch die gestrenge alte Dame sagte herzlich: »Sehr gut, Anne, das finde ich auch! Ich komme nicht umhin, dir höchstes Lob auszusprechen. Du machst deinen Freunden alle Ehre -jawohl! Wir sind alle stolz auf dich.«
29 - Ein Abend im White Sands Hotel
»Zieh dein neues weißes Kleid an«, riet Diana ihrer Freundin. Draußen dämmerte es; ein großer, noch fahler Vollmond stand über Green Gables. Die Luft war voller süßer Sommergeräusche: Die Vögel zwitscherten leise, die grünen Baumwipfel raschelten im lauen Wind und aus der Ferne waren Stimmen und fröhliches Gelächter zu hören. Doch Annes Fensterladen waren fest geschlossen. Hier im Zimmer fand gerade eine wichtige Abendtoilette statt.
Das Zimmer im Ostgiebel hatte sich sehr verändert, seit Anne vier Jahre zuvor dort ihre erste bange Nacht verbracht hatte. Langsam, aber stetig hatte sie sich in dem vormall kahlen Raum ein gemütliches kleines Nest eingerichtet.
Die Träume von Samtteppichen und rosa Seidengardinen waren freilich nicht in Erfüllung gegangen. Doch auch Träume verändern sich mit den Jahren und es ist wenig wahrscheinlich, dass Anne ihren früheren Wunschbildern nachtrauerte.
Eine hübsche Matte auf dem Fußboden und blassgrüne Musselingardinen an dem hohen Fenster waren an ihre Stelle getreten. Es gab zwar keinen goldenen Brokat, aber dafür schmückte eine einfache Tapete mit Apfelblütenmuster die Wände. Anne hatte einige Bilder aufgehängt, die ihr Mrs Allan geschenkt hatte. Miss Stacys Foto hatte einen Ehrenplatz auf Annes Kommode gefunden. Anne achtete sorgfältig darauf, die Vase davor immer mit frischen Blumen zu füllen. An jenem Abend waren es weiße Lilien, die den Raum mit einem zarten Duft erfüllten.
Anne und Diana machten sich gerade für ein Wohltätigkeitsfest fertig, das zu Gunsten des Krankenhauses von Charlottetown im White Sands Hotel stattfinden sollte, in der ganzen Umgebung hatte man nach jungen Talenten gesucht, die die Veranstaltung mit ihren
Weitere Kostenlose Bücher