Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Anne auf Green Gables

Anne auf Green Gables

Titel: Anne auf Green Gables Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lucy Maud Montgomery
Vom Netzwerk:
muss wohl gewusst haben, dass wir die Kleine brauchten.«
    Schließlich kam der Tag der Abreise. Nach einem tränenreichen Abschied von Diana brachte Matthew Anne in die Stadt. Der Abschied von Marilla war weniger tränenreich und - zumindest von Manilas Seite - eher sachlich gewesen. Als Anne aber abgefahren war, trocknete Diana ihre Tränen und fuhr fröhlich mit ihren Cousinen aus Carmody zum Strandpicknick nach White Sands hinüber, während Marilla sich verbissen in die Hausarbeit stürzte, um ihren heftigen Schmerz zu vergessen. Es war ein Schmerz, der tief im Herzen brannte und sich nicht so schnell in Tränen auflösen ließ. Erst als Marilla abends ins Bett ging und dabei an das kleine Zimmer im Ostgiebel dachte, das nun leer stand, fing sie an zu schluchzen. Sie vergrub ihr Gesicht im Kopfkissen und weinte sich in den Schlaf.
    Annes erster Tag auf dem College war recht aufregend und spannend. Sie lernte ihre Mitstudenten und Professoren kennen und stellte ihren Stundenplan zusammen. Auf Miss Stacys Rat hin hatte Anne genau wie Gilbert Blythe den Kurs für das »Große Lehrerexamen« belegt, der normalerweise zwei Jahre in Anspruch nahm. Sie wollten versuchen, das Examen schon nach einem Jahr abzulegen, mussten dafür allerdings doppelt so hart arbeiten wie die anderen. Jane, Ruby, Josie, Charlie und Moody Spurgeon wollten sich mit dem »Kleinen Examen« zufrieden geben.
    Ein Gefühl plötzlicher Einsamkeit befiel Anne, als sie sich in dem großen Unterrichtssaal des Colleges wieder fand. Um sie herum saßen fünfzig andere Studenten, von denen sie nicht einen kannte - abgesehen natürlich von dem großen, dunkelhaarigen Jungen auf der anderen Seite des Raumes. Die besondere Art ihrer Bekanntschaft würde es ihr auf dem College nicht gerade einfacher machen, dachte Anne. Auf eine Weise jedoch war sie allerdings froh, dass Gilbert und sie den gleichen Kurs belegt hatten: Der alte Wettkampf zwischen ihnen konnte nun wiederweitergehen. Was hätte Anne ohne Gilbert anfangen sollen?
    Noch einsamer fühlte sich Anne, als sie nachts allein in ihrem kleinen Zimmer lag. Die anderen Mädchen waren alle bei Verwandten in der Stadt untergekommen und auch Miss Josephine Barry hätte Anne liebend gern bei sich aufgenommen. Doch Beechwood lag so weit vom College entfernt, dass es leider nicht in Frage kam. Miss Barry hatte sich nach einer Pension umgesehen und ein Zimmer für Anne gemietet.
    »Die Pensionswirtin ist eine ehrenwerte Dame«, hatte sie Marilla und Matthew erklärt. »Ihr verstorbener Mann war ein britischer Offizier. Sie legt großen Wert auf den guten Ruf ihrer Gäste, es besteht also keine Gefahr, dass Anne mit zwielichtigen Personen in Berührung kommt. Sie wird dort gut aufgehoben sein. Das Essen ist gut und das Haus liegt in einer ruhigen Gegend ganz in der Nähe des Colleges.« All das mochte durchaus stimmen, doch Annes quälendes Heimweh wurde dadurch nicht geringer. Traurig sah sie sich in dem kleinen Raum um, betrachtete die kahlen Wände, das große Eisenbett und das leere Bücherbord. Ihr Hals war wie zugeschnürt, als sie an ihr gemütliches Nest auf Green Gables dachte. Statt Wiesen, Felder und Bäume konnte sie hier nur Hausdächer, Straßen und Telefonmasten sehen. Und statt Dianas Fenster, das durch die Zweige schimmerte, blinkten ihr hier Tausende von hell erleuchteten Fenstern entgegen, hinter denen fremde Menschen wohnten.
    Sie dachte an Matthew, der ohne sie zurück nach Hause gefahren war, und an Marilla, die bestimmt am Gartenzaun auf ihn gewartet hatte. Tränen traten in ihre Augen. Sie hätte sicherlich angefangen zu weinen, hätte nicht in diesem Moment jemand an ihre Tür geklopft.
    Es war Josie Pye. Vor lauter Freude, ein vertrautes Gesicht zu sehen, vergaß Anne alle Misshelligkeiten, die es zwischen ihr und Josie gegeben hatte: Als ein Teil von Avonlea war ihr selbst Josie Pye willkommen.
    »Ich bin froh, dass du gekommen bist«, sagte Anne aufrichtig.
    »Hast du geweint?«, erkundigte sich Josie mit heuchlerisch mitleidiger Stimme. »Du hast wohl Heimweh, was? Es gibt Leute, die haben überhaupt keine Selbstbeherrschung! Ich jedenfalls habe nicht die geringste Absicht, mich im Heimweh nach dem langweiligen, kleinen Avonlea zu suhlen - die Stadt ist viel zu aufregend dazu! Hör auf zu weinen, Anne, das ist schlecht für den Teint. Deine Nase und deine Augen werden rot und am Ende kann man dein Gesicht nicht mehr von deinen Haaren unterscheiden. - Ich hatte heute einen herrlichen

Weitere Kostenlose Bücher