Anne in Avonlea
sich manche ersparen könnten, wenn ihnen das klar wäre. Aber sie wissen es nicht und verschwenden viel Energie darauf, Himmel und Erde in Bewegung zu setzen, um zusammengehörige Dinge zusammenzubringen. Und du, Paul... nanu, bist du groß geworden! Du bist um einen halben Kopf gewachsen, seit du das letzte Mal hier warst.«
»Ja, ich schieße in die Höhe wie Gänsefuß bei Nacht, wie Mrs Lynde immer sagt«, sagte Paul ehrlich erfreut über die Tatsache. »Großmutter sagt, das Porridge wirke endlich. Vielleicht stimmt es. Weiß der Himmel«, Paul seufzte tief, »ich habe so viel davon gegessen, dass es jeden zum Wachsen bringen würde. Hoffentlich wachse ich jetzt so lange weiter, bis ich so groß bin wie mein Vater. Er ist über einen Meter achtzig groß, wissen Sie, Miss Lavendar.«
Ja, das wusste Miss Lavendar. Ihre hübschen Wangen wurden noch ein wenig röter. Sie nahm Paul an die eine und Anne an die andere Hand und ging schweigend aufs Haus zu.
»Ist heute ein guter Tag für die Echos, Miss Lavendar?«, fragte Paul gespannt. Bei seinem ersten Besuch war Paul sehr enttäuscht gewesen, weil es zu windig gewesen war.
»Ja, der beste Tag überhaupt«, antwortete Miss Lavendar und riss sich aus ihren Träumen. »Aber zuallererst gehen wir hinein und essen etwas. Ihr zwei seid den ganzen Weg hierher gelaufen und seid bestimmt hungrig. Charlotta die Vierte und ich könnten Tag und Nacht essen - wir haben mächtig Appetit. Wir plündern schnell einmal die Speisekammer. Zum Glück ist sie hübsch voll. Ich hatte so eine Ahnung, dass ich heute Besuch bekommen würde. Charlotta die Vierte und ich haben dafür gesorgt.«
»Sie gehören zu denen, die immer nette Sachen auf Vorrat in der Speisekammer haben«, verkündete Paul. »Genau wie Großmutter. Aber kleine Imbisse zwischen den Mahlzeiten, das gibt es bei ihr nicht. Ich frage mich«, fügte er nachdenklich hinzu, »ob ich die kleinen Imbisse nicht woanders zu mir nehmen sollte, wo sie nun mal dagegen ist.«
»Nach einem langen Spaziergang würde sie bestimmt eine Ausnahme machen. Dann ist es etwas anderes«, sagte Miss Lavendar und warf Anne über Pauls braunen Lockenkopf hinweg belustigte Blicke zu. »Kleine Imbisse sind ausgesprochen ungesund. Wir halten es genau entgegengesetzt. Charlotta die Vierte und ich, wir leben entgegen aller Regeln der Ernährung. Wir essen zu jeder Tages- und Nachtzeit alle möglichen schwer verdaulichen Sachen und gedeihen wie Bäume am Wasser. Wir nehmen uns immer vor, uns zu bessern. Wenn wir in der Zeitung einen Artikel lesen, in dem vor einer unserer Lieblingsspeisen gewarnt wird, schneiden wir ihn aus und hängen ihn zur Erinnerung an die Küchenwand. Aber irgendwie denken wir erst wieder daran, wenn wir besagtes Essen verspeist haben. Bis jetzt haben wir es heil überstanden. Aber Charlotta die Vierte hatte einmal Alpträume, nachdem wir Krapfen, gefüllte Pastete und Früchtekuchen vor dem Zubettgehen gegessen hatten.«
»Großmutter gibt mir vor dem Zubettgehen immer nur ein Glas Milch und eine Scheibe Butterbrot zu essen. Nur sonntags streicht sie Marmelade aufs Brot«, sagte Paul. »Also freue ich mich immer auf Sonntagabend - aber nicht nur aus dem Grund. Die Sonntage an der Uferstraße sind immer so langweilig. Großmutter kommen sie zu kurz vor. Vater hätte als kleiner Junge Sonntage nicht langweilig gefunden, sagt sie. Ich würde sie auch nicht langweilig finden, wenn ich mich mit meinen Felsen-Menschen unterhalten könnte, aber an Sonntagen hat Großmutter es mir verboten. Also denke ich über dies und jenes nach. Es sind mehr weltliche Gedanken. Großmutter sagt, am Sonntag solle man nur über religiöse Dinge nachdenken. Die Lehrerin hat einmal gesagt, jeder schöne Gedanke wäre fromm, egal, worum es sich handelt oder an welchem Tag man ihn denkt. Großmutter meint, dass man sich nur bei Predigten und in den Unterrichtsstunden in der Sonntagsschule wirklich fromme Gedanken macht. Weil meine Großmutter und die Lehrerin verschiedener Auffassung sind, weiß ich nicht, woran ich bin. Im Innern«, Paul legte die Hand auf die Brust und sah mit seinen ernsten blauen Augen in Miss Lavendars verständnisvolles Gesicht, »stimme ich mit der Lehrerin überein. Andererseits, verstehen Sie, hat Großmutter Vater nach ihren Auffassungen erzogen und das war ein voller Erfolg. Die Lehrerin hat bisher noch niemanden großgezogen, allerdings hilft sie Davy und Dora aufzuziehen. Aber man weiß nicht, was aus ihnen wird, wenn
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