Anne in Avonlea
finster drein. Von East Grafton bis hierher waren es zehn Meilen und Davy Keith schien nicht eine Minute stillsitzen zu können. Es überstieg Marillas Kräfte den Zappelphilipp zu bändigen. Den ganzen Weg über hatte sie Todesängste ausgestanden, er könnte hinten von der Kutsche fallen und sich das Genick brechen oder über den Kutschbock stürzen und unter die Hufe des Pferdes geraten. Verzweifelt drohte sie ihm schließlich eine gehörige Tracht Prügel an, sobald sie zu Hause wären. Woraufhin Davy auf ihren Schoß kletterte und ihr, ohne auf die Zügel zu achten, seine pummeligen Arme um den Hals legte und sie tolpatschig drückte.
»Das meinst du bestimmt nicht ernst«, sagte er und gab ihr zärtlich einen Kuss auf die runzlige Wange. »Du siehst nicht aus wie eine, die einen kleinen Jungen verprügeln würde, nur weil er nicht stillsitzen kann. Fandest du es nicht schrecklich schwer stillzusitzen, als du noch so klein warst wie ich?«
»Nein, ich habe mich nicht gerührt, wenn man es mir befohlen hat«, sagt Marilla und versuchte ihre Stimme streng klingen zu lassen, obgleich sie spürte, wie ihr Herz unter Davys spontanen Liebkosungen dahinschmolz.
»Hm, bestimmt, weil du ein Mädchen warst«, sagte Davy, der nach einer weiteren Umarmung wieder auf seinen Platz rutschte. »Du warst doch mal ein Mädchen, oder? Auch wenn das ganz komisch ist, wenn ich mir das vorstelle. Dora kann stillsitzen, aber mir macht das keinen Spaß. Bestimmt langweilig, ein Mädchen zu sein. Komm, Dora, ich muntere dich ein bisschen auf.«
Er packte Dora an den Haaren und zog kräftig daran. Dora schrie und fing dann an zu weinen.
»Wie kannst du nur so ungezogen sein, und das, wo deine arme Mutter gerade erst beerdigt ist?«, sagte Marilla verzweifelt.
»Aber sie war froh zu sterben«, vertraute Davy ihr an. »Ich weiß es genau, weil sie es mir selbst gesagt hat. Sie war es so leid immer krank zu sein. Wir haben den letzten Abend, bevor sie gestorben ist, lange miteinander geredet. Sie hat mir gesagt, du würdest Dora und mich den Winter über aufnehmen und ich müsste ein braver Junge sein.
Ich werde brav sein, aber kann man nicht genauso gut brav sein, wenn man herumrennt und nicht stillsitzt? Sie hat gesagt, ich müsste immer nett zu Dora sein und zu ihr halten. Das werde ich auch tun.«
»Nennst du das etwa nett, sie an den Haaren zu ziehen?«
»Naja, ich lasse niemand sonst daran ziehen«, sagte Davy, legte die Fäuste zusammen und runzelte die Stirn. »Ich wollte es nur mal ausprobieren. Ich hab ihr nicht richtig weh getan ... sie hat nur geheult, weil sie ein Mädchen ist. Ich bin froh, dass ich ein Junge bin, aber es ist schade, dass ich ein Zwilling bin. Wenn Jimmy Sprotts Schwester ihm widerspricht, sagt er nur: >Ich bin älter als du, also bin ich der Klügere<, und dann hält sie den Mund. Aber das kann ich zu Dora nicht sagen, und nie will sie, was ich will. Du kannst mich ja mal ein bisschen den Hottemax fahren lassen, ich bin schließlich ein Mann.«
Marilla war heilfroh, als sie endlich in den Hof einbogen, wo der abendliche Herbstwind die braunen Blätter tanzen ließ. Anne erwartete sie am Tor und hob die Zwillinge aus dem Wagen. Dora ließ sich artig einen Kuss geben, Davy dagegen erwiderte Annes Willkommensgruß mit einer herzlichen Umarmung und der freudigen Ankündigung: »Ich bin Mr Davy Keith.«
Am Abendbrottisch benahm sich Dora wie eine kleine Dame. Davys Manieren hingegen ließen sehr zu wünschen übrig.
»Ich hab solchen Hunger, dass ich jetzt nicht die Zeit hab, ordentlich zu essen«, sagte er, als Marilla ihn deswegen tadelte. »Dora hat nicht halb so viel Hunger wie ich. Weil ich so viel in Bewegung war auf dem ganzen Weg hierher. Der Kuchen da ist ganz toll, sind so viele Pflaumen drin. Zu Hause haben wir schon ewig keinen Kuchen mehr gekriegt, weil Mama zu krank zum Backen war, und Mrs Sprott hat gesagt, sie hätte schon genug damit zu tun, Brot für uns zu backen. Mrs Wiggins tut nie Pflaumen in ihre Kuchen. Kann mich mal! Kann ich noch ein Stück haben?«
Marilla hätte ihm keins mehr gegeben, aber Anne schnitt ein großes zweites Stück ab. Allerdings erinnerte sie Davy daran, dass er »danke« dafür zu sagen hatte. Davy grinste sie nur an und nahm einen riesigen Bissen. Als er das Stück aufgegessen hatte, sagte er: »Wenn du mir noch ein Stück gibst, sag ich danke.«
»Nein, es reicht«, sagte Marilla in einem Ton, den Anne nur zu gut kannte, von dem Davy allerdings noch
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