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Anne in Avonlea

Anne in Avonlea

Titel: Anne in Avonlea Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lucy Maud Montgomery
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die eng beschriebenen Seiten vor ihr hatten unverkennbar nichts mit Studien oder Arbeiten für die Schule zu tun.
    »Was ist los?«, fragte Gilbert, der gerade in dem Augenblick an die offene Küchentür gekommen war, um ihren Seufzer noch zu hören. Anne wurde rot und schob das Geschriebene schnell unter ein paar Schulaufsätze.
    »Nichts Schlimmes. Ich habe nur gerade versucht, einige meiner Gedanken zu Papier zu bringen, wie Professor Hamilton es mir geraten hat, aber es will mir nicht so recht gelingen. Sie wirken so hölzern und dümmlich direkt, wenn man sie schwarz auf weiß vor sich hat. Einfälle sind wie Schatten - man kann sie nicht einfangen, sie sind unberechenbar und hüpfen hin und her. Aber vielleicht gelingt es mir eines Tages ja doch, wenn ich es weiter probiere. Ich habe nicht viel freie Zeit, weißt du. Wenn ich die Hefte und Aufsätze korrigiert habe, habe ich meist keine Lust mehr zum Schreiben.«
    »Du kommst in der Schule glänzend an, Anne. Alle Kinder mögen dich«, sagte Gilbert und setzte sich auf die Steinstufe.
    »Nein, das stimmt nicht. Anthony Pye mag mich nicht und wird mich nie mögen. Schlimmer noch, er respektiert mich nicht, überhaupt nicht. Er verachtet mich. Ich gebe auch gern zu, dass mich das furchtbar quält. Nicht dass er von Grund auf schlecht wäre, er stellt nur dauernd etwas an. Aber eigentlich auch nichts Schlimmeres als andere. Er gehorcht mir meist auch, aber mit einer spöttischen Nachsicht, so, als lohne es nicht, sich mit mir anzulegen — und das hat einen schlechten Einfluss auf die anderen. Ich habe alles versucht, ihn für mich einzunehmen, aber ich fürchte langsam, dass mir das nie gelingen wird. Ich möchte es, weil er ein kluges Kerlchen ist, Pye hin und her. Ich würde ihn gut leiden können, wenn er es nur zuließe.«
    »Wahrscheinlich kriegt er zu Hause so einiges mit.«
    »Nein. Anthony ist ein selbstständiger kleiner Bursche und bildet sich seine eigene Meinung. Er hat schon immer mehr von Männern gehalten und behauptet, Lehrerinnen taugten nichts. Nun ja, man wird sehen, was sich mit Geduld und Freundlichkeit machen lässt. Es liegt mir, Schwierigkeiten zu meistern, und Unterrichten ist wirklich hochinteressant. Paul Irving macht alles wieder wett, woran es bei den anderen hapert. Dieser Junge ist einfach ein Goldschatz, Gilbert, und ein Genie obendrein. Ich bin sicher, eines Tages wird man von ihm noch hören«, schloss Anne überzeugt.
    »Mir macht die Schule auch Spaß«, sagte Gilbert. »Zum einen ist es ein gutes Training. Zum anderen, Anne, habe ich in den Wochen, seit ich in White Sands unterrichte, mehr gelernt als in all den Jahren, als ich selbst noch zur Schule ging. Wir scheinen alle ganz gut zurechtzukommen. Die Leute in Newbridge sind sehr zufrieden mit Jane, hat man mir erzählt, und ich glaube, White Sands ist auch leidlich zufrieden mit deinem treuen Freund - außer Mr. Andrew Spencer. Letzten Abend auf dem Nachhauseweg traf ich Mrs. Peter Blewett. Sie sagte, sie hielte es für ihre Pflicht, mich darüber in Kenntnis zu setzen, dass Mr. Spencer mit meinen Methoden nicht einverstanden wäre.«
    »Ist dir schon einmal aufgefallen«, sagte Anne nachdenklich, »dass man sich am besten auf etwas Unangenehmes einstellt, wenn die Leute sagen, sie hielten es für ihre Pflicht, einem dies oder jenes mitzuteilen? Wieso halten sie es nicht für ihre Pflicht, einem die netten Dinge mitzuteilen, die sie über einen gehört haben? Gestern kam Mrs H. B. Donnell wieder bei der Schule vorbei und sagte, sie hielte es für ihre Pflicht, mir mitzuteilen, dass Mrs Harmon Andrews nicht damit einverstanden wäre, dass ich den Kindern Märchen vorlese. Und Mr Rogerson fände, Prillie käme im Rechnen nicht schnell genug voran. Würde Prillie über ihre Tafel hinweg denjungen nicht dauernd schöne Augen machen, käme sie auch schneller voran. Ich bin ziemlich sicher, dass Jack Gillis ihr die Rechenaufgaben ausrechnet, auch wenn ich ihn bisher noch nicht auf frischer Tat ertappen konnte.«
    »Konntest du dich mit Mrs Donnells hoffnungsvollem Sohn wegen des frommen Namens einigen?«
    »Ja«, lachte Anne, »aber es war einigermaßen schwierig. Zuerst beachtete er mich überhaupt nicht, wenn ich ihn mit >St. Clair< ansprach, bis ich es zwei-, dreimal wiederholt hatte. Und dann, wenn die anderen Jungen ihn anstupsten, sah er mich ganz gekränkt an, als hätte ich ihn John oder Charlie genannt. So, als ob er nun wirklich nicht wissen konnte, dass ich ihn gemeint

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