Anne in Avonlea
Cousine dritten Grades hat man da keine Anrechte. Und es bedeutet eine große Verantwortung, sich um zwei Kinder von sechs Jahren zu kümmern - noch dazu Zwillinge.«
Marilla hatte die Vorstellung, dass Zwillinge doppelt so schlimm waren wie Einzelkinder.
»Zwillinge sind hochinteressant - zumindest ein einzelnes Zwillingspärchen«, sagte Anne. »Erst wenn man es mit zwei oder drei Zwillingspaaren zu tun hat, wird es eintönig. Ich fände es wirklich gut, wenn du Unterhaltung hättest, während ich in der Schule bin.«
»Das wird kaum sehr unterhaltsam sein - es bedeutet höchstens mehr Sorgen und Aufregungen, würde ich meinen. Es wäre nicht so ein Wagnis, wenn sie so alt wären wie du, als ich dich aufgenommen habe. Gegen Dora hätte ich ja nichts einzuwenden, sie ist brav und lieb. Aber dieser Davy ist ein Filou.«
Anne war vernarrt in Kinder und sie hatte Mitleid mit den Keith-Zwillingen. Sie erinnerte sich nur allzu lebhaft an ihre eigene vernachlässigte Kindheit. Sie wusste, dass sie Marilla nur bei ihrem strengen Pflichtgefühl packen konnte, also ging Anne geschickt nach diesem Grundsatz vor.
»Wenn Davy ungezogen ist, dann ist das nur umso mehr Grund, dass er eine gute Erziehung bekommt, nicht wahr, Marilla? Nehmen wir die Kinder nicht auf, wissen wir nicht, wer sie dann aufnimmt und welchen Einflüssen sie ausgesetzt werden. Angenommen, Mrs Keiths nächste Nachbarn, die Sprotts, würden sie zu sich nehmen. Mrs Lynde sagt, Henry Sprott sei der gottloseste Mensch, der je gelebt hat, und seinen Kindern könne man nicht ein Wort glauben. Stelle dir einmal vor, die Zwillinge würden auch so werden! Oder mal angenommen, sie kämen zu den Wiggins. Mrs Lynde sagt, Mr Wiggins verkaufe alles, was auf der Farm nicht niet- und nagelfest ist, und ernähre seine Familie mit entrahmter Milch. Du würdest doch nicht wollen, dass deine Verwandten Hungers sterben, auch wenn es nur Verwandte dritten Grades sind, nicht wahr? Ich finde, Marilla, es ist unsere Pflicht, sie aufzunehmen.«
»Ich denke auch«, stimmte Marilla nachdenklich zu. »Dann werde ich Mary also sagen, dass ich die Kinder aufnehme. Du brauchst gar nicht so begeistert dreinzusehen, Anne. Für dich heißt das eine ganze Menge zusätzlicher Arbeit. Ich mit meinen Augen kann nicht einen Stich nähen, also musst du dich um ihre Sachen kümmern und sie flicken. Aber du nähst ja nicht gern.«
»Ich hasse es«, sagte Anne ruhig, »aber wenn du bereit bist, aus Pflichtgefühl die Kinder aufzunehmen, dann werde ich ja wohl auch aus Pflichtgefühl ihre Sachen nähen können. Es tut einem gut, Dinge tun zu müssen, die man nicht gern tut - in Maßen jedenfalls.«
08 - Marilla adoptiert Zwillinge
Mrs Rachel Lynde saß an ihrem Küchenfenster und strickte eine Baumwolldecke - genau wie etliche Jahre zuvor, als Matthew Cuthbert den Hügel hinuntergefahren kam mit dem, was Mrs Rachel »sein heimgeholtes Waisenkind« nannte. Aber das war im Frühling gewesen, jetzt war es Spätherbst. Alle Bäume waren kahl und die Felder verdorrt und braun. Eben ging die Sonne tiefrot und golden hinter den dunklen Wäldern im Westen von Avonlea unter, als ein Wagen, gezogen von dem behäbigen Braunen, den Hügel heruntergefahren kam. Mrs Rachel betrachtete sie gespannt.
»Da kommt Marilla von der Beerdigung zurück«, sagte sie zu ihrem Mann, der auf dem Sofa in der Küche lag. Thomas Lynde legte sich jetzt öfter als früher aufs Sofa, aber Mrs Rachel, die mit Argusaugen alles außerhalb ihrer eigenen vier Wände erspähte, war das bisher noch nicht aufgefallen. »Und sie hat die Zwillinge dabei ... ja, da, Davy lehnt sich über den Kutschbock und greift nach dem Pferdeschwanz und Marilla zieht ihn zurück. Sie sieht doch immer wie aus dem Ei gepellt aus. Na, diesen Winter wird die arme Marilla die Hände voll zu tun haben, das steht fest. Aber so wie die Dinge liegen, blieb ihr wohl nichts anderes übrig und sie hat ja Anne, die ihr zur Hand gehen kann. Anne ist ganz aus dem Häuschen und sie versteht sich wirklich auf Kinder, das muss ich sagen. Ach je, es kommt mir vor, als wäre es erst gestern gewesen, dass der gute Matthew Anne hergebracht hat. Alle Welt hat gelacht bei dem Gedanken, dass Marilla ein Kind aufziehen will. Und jetzt hat sie Zwillinge adoptiert. Man ist doch sein Leben lang nicht vor Überraschungen sicher.«
Das behäbige Pferd trottete bedächtig über die Brücke von Lynde’s Hallow und den Weg nach Green Gables entlang. Marilla schaute ziemlich
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