Anne in Avonlea
lernen musste, dass das ihr letztes Wort war.
Davy zwinkerte Anne zu, beugte sich dann über den Tisch, schnappte Dora ihr erstes Stück Kuchen, von dem sie erst einen kleinen Happen abgebissen hatte, aus den Händen und stopfte es sich in den Mund, den er sperrangelweit aufgerissen hatte. Doras Lippen zitterten, Marilla war sprachlos vor Entsetzen. Anne rief sofort in ihrer besten »Lehrerinnen«-Manier-, »Davy, ein Gentleman tut so etwas nicht.«
»Das weiß ich«, sagte Davy, sobald er wieder sprechen konnte, »aber ich bin kein Gentleman.«
»Aber willst du denn nicht einer sein?«, fragte Anne schockiert. »Klar. Aber man kann erst ein Gentleman sein, wenn man groß ist.«
»Natürlich kannst du einer sein«, sagte Anne schnell, weil sie das als eine Chance ansah, beizeiten den Samen des Guten zu säen. »Damit kann man schon als kleiner Junge anfangen. Und ein Gentleman nimmt niemals einer Dame etwas weg ... oder vergisst, danke zu sagen . .. oder zieht jemanden an den Haaren.«
»Er hat wenig Spaß im Leben und damit basta«, sagte Davy frei heraus. »Ich glaube, ich warte damit, bis ich groß bin.«
Marilla hatte resigniert noch ein Stück Kuchen für Dora abgeschnitten. Sie wusste im Augenblick nicht, wie sie mit Davy fertig werden konnte. Sie hatte durch die Beerdigung und durch die lange Fahrt einen schweren Tag hinter sich und im Moment blickte sie so pessimistisch in die Zukunft, dass es Eliza Andrews höchstpersönlich zur Ehre gereicht hätte.
Die Zwillinge waren einander bemerkenswert unähnlich, obwohl beide blond waren. Dora hatte langes, glänzendes Haar, das nie zerzaust war. Davy dagegen hatte kurze, struppige, gelbliche Ringellöckchen, die seinen runden Kopf umrahmten. Dora hatte freundliche, sanfte haselnussbraune Augen, Davys dagegen hatten etwas elfenhaft Schelmisches und bewegten sich flink hin und her. Dora hatte eine gerade Nase, Davy eine ausgesprochene Stupsnase. Dora sah immer etwas verkniffen drein, Davys Mund dagegen umspielte stets ein Lächeln. Außerdem hatte er in einer Wange ein Grübchen, in der anderen nicht, was ihm ein liebes, ulkiges, schiefes Aussehen verlieh, wenn er lachte. Der Schalk stand ihm im Gesicht geschrieben.
»Sie gehen am besten ins Bett«, sagte Marilla, die darin momentan den einfachsten Weg sah sie loszuwerden. »Dora schläft bei mir, Davy kannst du in den Westgiebel bringen. Du hast doch keine Angst, allein zu schlafen, nicht wahr, Davy?«
»Nein, aber ich gehe noch lange nicht ins Bett«, sagte Davy vergnügt. »O doch«, war alles, was die viel geplagte Marilla dazu sagte, aber etwas in ihrem Tonfall ließ auch Davy in seinen Grundfesten erschüttern. Gehorsam trottete er mit Anne die Treppen hinauf.
»Wenn ich groß bin, werde ich als Allererstes die ganze Nacht aufbleiben, nur um zu sehen, wie das ist«, vertraute er ihr an.
Noch Jahre später erinnerte sich Marilla nicht ohne Schaudern an diese erste Woche, die sich die Zwillinge in Green Gables aufhielten. Nicht dass diese erste Woche so viel schlimmer gewesen wäre als die darauf folgenden, aber es kam ihr doch so vor, weil alles neu war. Es gab selten einmal eine Minute, in der Davy nicht etwas ausheckte oder anstellte. Aber seine erste wirklich denkwürdige Tat erfolgte zwei Tage nach seiner Ankunft - an einem Sonntagmorgen, einem schönen, warmen Tag, so dunstig und mild wie ein Tag im September. Anne machte ihn fertig für die Kirche, während Marilla sich um Dora kümmerte. Davy weigerte sich zunächst entschieden, sich das Gesicht waschen zu lassen.
»Marilla hat es erst gestern gewaschen und Mrs Wiggins hat mich am Tag der Beerdigung mit Kernseife geschruppt. Das reicht für eine Woche. Ich weiß nicht, was daran gut sein soll, so schrecklich sauber zu sein. Dreckig zu sein ist viel schöner.«
»Paul Irving wäscht sich jeden Tag, und zwar freiwillig«, sagte Anne listig.
Davy war seit wenig mehr als achtundvierzig Stunden auf Green Gables, aber Anne hatte er bereits ins Herz geschlossen und er hasste Paul Irving, auf den Anne am Tag nach Davys Ankunft voller Begeisterung ein Loblied gesungen hatte. Wenn Paul Irving sich jeden Tag wusch, dann war die Sache klar. Er, Davy Keith, würde sich auch waschen, und wenn es ihn umbrachte. Mit dieser Einstellung ließ er alles nun Folgende demütig über sich ergehen. Als es geschafft war, war er wirklich ein hübsches Kerlchen. Anne empfand fast so etwas wie Mutterstolz, als sie ihn zu der altangestammten Kirchenbank von Cuthberts
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