Anne in Avonlea
erwähnte Anne nicht, als sie am Abend Marilla den Tag schildert. Aber sie nahm die Flasche mit der Sommersprossen-Lotion und schüttete sie aus dem Fenster.
»Ich werde nie mehr Schönheitstinkturen verwenden«, sagte sie finster entschlossen. »Bei vorsichtigen und besonnenen Leuten mag es ja klappen. Aber für jeden, der wie ich ein so hoffnungsloses Talent besitzt, dauernd irgendwelche Fehler zu machen, heißt es das Schicksal unnötig herauszufordern.«
21 - Die liebenswerte Miss Lavendar
Die Schule begann. Anne nahm ihre Arbeit mit weniger Theorien im Kopf, aber entschieden mehr Erfahrung wieder auf. Sie hatte mehrere neue Schüler, die zwischen sechs und sieben Jahren alt waren und mit großen runden Augen in die Welt schauten. Unter ihnen waren auch Davy und Dora. Davy saß neben Milty Boulter, der bereits seit einem Jahr die Schule besuchte und also schon ein Mann von Welt war. Dora hatte sonntags zuvor in der Sonntagsschule mit Lily Sloane abgemacht, dass sie nebeneinander sitzen wollten. Aber da Lily Sloane am ersten Schultag nicht in die Schule kam, wurde Dora einstweilen der Platz neben Mirabel Cotton zugewiesen; sie war zehn Jahre alt und gehörte in Doras Augen daher schon zu »den großen Mädchen«.
»Die Schule macht riesigen Spaß«, erzählte Davy Marilla, als er am Nachmittag nach Hause kam. »Du hast gemeint, es würde mir schwer fallen stillzusitzen. Es war schwer - du hast fast immer mit allem Recht, fällt mir auf. Aber man kann unter dem Tisch mit den Beinen zappeln, das hilft eine ganze Menge. Prima ist, dass man so viele Jungen zum Spielen hat. Ich sitze neben Milty Boulter, der ist nett. Er ist größer als ich, aber dafür bin ich dicker, ln den hinteren Bänken zu sitzen ist schöner, aber da bekommt man erst einen Platz, wenn die Beine lang genug sind und den Fußboden berühren. Milty hat auf seine Tafel ein ganz hässliches Bild von Anne gemalt. Ich habe zu ihm gesagt, wenn er weiter solche Bilder von Anne malt, würde ich ihn in der Pause versengen. Zuerst hatte ich vor, ihn mit Hörnern und Schwanz zu malen, aber dann wäre er vielleicht beleidigt gewesen. Wo Anne doch immer sagt, man solle niemals jemanden beleidigen. Das scheint was ganz Schlimmes zu sein. Man schlägt besser einen Jungen zu Boden, als dass man ihn beleidigt, wenn man schon eins von beiden tun muss. Milty behauptet, er hätte keine Angst vor mir, aber mir zu Gefallen könnte er auch einen anderen Namen unter das Bild schreiben. Also hat er Annes Namen ausgewischt und Barbara Shaw darunter gesetzt. Milty kann Barbara nämlich nicht ausstehen, weil sie ihn süß findet. Einmal hat sie ihm sogar den Kopf getätschelt.«
Dora sagte artig, dass ihr die Schule gefiele. Aber selbst für ihre Verhältnisse war sie sehr schweigsam. Als Marilla sie bei Einbruch der Dunkelheit ins Bett schicken wollte, zögerte sie und fing an zu weinen.
»Ich ... ich habe Angst«, schluchzte sie. »Ich ... ich mag nicht allein im Dunkeln nach oben gehen.«
»Was spukt dir jetzt im Kopf herum?«, fragte Marilla. »Du bist doch den ganzen Sommer allein ins Bett gegangen und hast keine Angst gehabt.«
Dora hörte nicht auf zu weinen. Anne nahm sie hoch, drückte sie mitfühlend und sagte leise: »Erzähl es mir Dora, Herzchen. Wovor hast du Angst?«
»Vor... vor Mirabel Cottons Onkel«, schluchzte Dora. »Mirabel Cotton hat mir heute in der Schule ihre ganze Familiengeschichte erzählt. Fast alle in ihrer Familie sind gestorben - alle Großmütter und Großväter und ganze viele Tanten und Onkel. Sie sterben alle weg, sagt Mirabel. Sie ist furchtbar stolz darauf, so viele tote Verwandte zu haben. Sie hat mir erzählt, woran sie gestorben sind, was sie gesagt und wie sie in ihren Särgen ausgesehen haben. Einer ihrer Onkel wurde gesehen, wie er nach seiner Beerdigung ums Haus schlich. Ihre Mutter hat ihn gesehen. Das andere macht mir weiter nichts aus, ich muss nur dauernd an diesen Onkel denken.«
Anne ging mit Dora nach oben und setzte sich neben sie ans Bett, bis sie eingeschlafen war. Am nächsten Tag in der Pause rief sie Mirabel zu sich und gab ihr »freundlich, aber entschieden« zu verstehen, dass es bedauerlich sei, einen Onkel zu haben, der unbeirrt weiter um anderer Leute Häuser wanderte, nachdem er in aller Form begraben worden war, und dass es geschmacklos sei, mit der viel jüngeren Tischnachbarin über diesen wunderlichen Herrn zu sprechen. Mirabel traf das hart. Die Cottons hatten nichts, womit sie hätten prahlen
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