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Anne in Avonlea

Anne in Avonlea

Titel: Anne in Avonlea Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lucy Maud Montgomery
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verwunschen aussah, wie einen in dieser Gegend mit den üblichen Holzhäusern ein Palast verwundert hätte. Es ähnelte sehr einem Palast. Anne blieb verzückt stehen. Diana rief: »Ah, jetzt weiß ich, wo wir sind. Das ist das kleine Steinhaus, in dem Miss Lavendar Lewis wohnte - Echo Lodge nennt sie es, soweit ich weiß. Ich habe schon oft davon gehört, aber es noch nie gesehen. Ist es nicht ein romantisches Fleckchen?«
    »Es ist der schönste und hübscheste Ort, den ich je gesehen oder mir vorgestellt habe«, sagte Anne entzückt. »Er könnte aus einem Märchenbuch oder einem Traum sein.«
    Das Haus hatte tief herabgezogene Dachrinnen und war aus unbehauenen roten Sandsteinblöcken gebaut, wie es sie auf der Insel gab. Es hatte ein kleines spitzes Dach mit zwei großen Schornsteinen und zwei Giebelfenster mit kunstvoll gearbeiteten hölzernen Hauben darüber. Das ganze Haus war mit üppig wachsendem Efeu bedeckt, der an dem rauen Mauerwerk guten Halt fand und sich bei Herbstfrösten in die wunderschönsten bronzenen und weinroten Farbtöne verfärbte.
    Vor dem Haus war ein rechteckiger Garten, in dem vom Weg her ein Tor führte, an dem die Mädchen standen. An der einen Seite wurde der Garten vom Haus begrenzt. An den drei anderen Seiten wurde er von einer alten Steinmauer eingefasst, die so mit Moos, Gras und Farn überwuchert war, dass sie aussah wie ein hoher grüner Wall. Rechts und links vom Haus standen mächtige dunkle Fichten und breiteten ihre palmenähnlichen Zweige darüber. Unterhalb davon waren kleine Wiesen übersät mit grünem Klee, die schräg abfielen zum blau sich dahinschlängelnden Fluss. Weit und breit war kein anderes Haus oder eine Lichtung zu sehen — soweit das Auge reichte, nichts als Hügel und Täler mit jungen Tannen.
    »Was Miss Lewis wohl für ein Mensch ist?«, überlegte Diana, als sie das Gartentor öffnete. »Man hält sie ja für sonderbar.«
    »Dann ist sie interessant«, sagte Anne entschieden. »Sonderlinge sind zumindest interessant, was immer sie sonst sind oder nicht sind. Habe ich dir nicht gleich gesagt, wir kämen an einen verzauberten Ort? Ich wusste, dass die Feen nicht umsonst den Weg verzaubert haben.«
    »Aber Miss Lavendar Lewis ist wohl kaum eine verzauberte Prinzessin«, lachte Diana. »Sie ist eine alte Jungfer. Sie ist fünfundvierzigjahre alt und schon ziemlich grau, hat man mir erzählt.«
    »Das ist nur ein Teil des Zaubers«, erklärte Anne überzeugt. »Im Herzen ist sie jung geblieben und noch schön. Wenn wir nur wüssten, wie man den Zauber löst, dann würde sie wieder strahlend und hübsch sein. Aber wir wissen es nicht - das weiß einzig und allein der Prinz. Und Miss Lavendars Prinz ist noch nicht gekommen. Vielleicht ist ihm ein verhängnisvolles Unglück zugestoßen - obwohl das gegen alle Regeln eines Märchens wäre.«
    »Ich fürchte, er kam einmal vor langer Zeit und ging wieder«, sagte Diana. »Man sagt, sie wäre in jungen Jahren mit Stephen Irving, Pauls Vater, verlobt gewesen. Aber sie haben sich zerstritten und sich getrennt.«
    »Pssst«, wies Anne sie an. »Die Tür ist offen.«
    Die Mädchen blieben auf der Veranda unter den Efeuranken stehen und klopften an die offene Tür. Im Haus waren Schritte zu hören. Eine ziemlich merkwürdige kleine Gestalt kam zum Vorschein — ein Mädchen von etwa vierzehn Jahren mit Sommersprossen, einer Stupsnase, einem großen Mund, der wirklich aussah, als reichte er »von einem Ohr zum anderen«, und zwei langen blonden Zöpfen mit zwei riesigen blauen Schleifen.
    »Ist Miss Lewis zu Hause?«, fragte Diana.
    »Ja, meine Damen. Kommen Sie herein, meine Damen . . . hier entlang ... nehmen Sie doch Platz, meine Damen. Ich sage Miss Lavendar Bescheid, dass Sie da sind, meine Damen. Sie ist oben, meine Damen.«
    Damit huschte die Kleine hinaus. Die beiden allein gelassenen Mädchen sahen sich entzückt um. Das wundervolle Haus war innen genauso interessant wie außen.
    Das Zimmer hatte eine niedrige Decke und zwei viereckige Fenster mit kleinen Scheiben und Gardinen mit Musselinrüschen. Die Möbel waren altmodisch, aber so fein gearbeitet, dass sie wunderschön wirkten. Ehrlicherweise muss jedoch zugegeben werden, dass die zwei gesunden Mädchen, die soeben vier Meilen durch die Herbstluft gewandert waren, am meisten ein Tisch anzog, der mit blauem Porzellan gedeckt und überladen war mit Köstlichkeiten. Kleine goldfarbene Farnblätter auf dem Tischtuch verliehen dem Ganzen, wie Anne es genannt

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