Anne in Avonlea
hätte, »ein festliches Aussehen«.
»Miss Lavendar erwartet wohl Besuch zum Tee«, flüsterte sie. »Da ist für sechs Personen gedeckt. Was für ein lustiges Dienstmädchen sie hat. Sie hat ausgesehen wie ein Botschafterin aus dem Land der Feen. Sie hätte uns bestimmt den Weg erklären können, aber ich war gespannt auf Miss Lavendar. Sch .. . Seht... sie kommt.«
Da stand Miss Lavendar Lewis auch schon in der Tür. Die Mädchen waren so überrascht, dass sie alle ihre guten Manieren vergaßen und sie nur anstarrten. Unbewusst hatten sie aus alter Erfahrung die übliche Sorte alter Jungfer erwartet — eine ziemlich eckige Gestalt mit ordentlich gekämmten grauen Haaren und einer Brille. Eine dem unähnlichere Person als Miss Lavendar hätte man sich nicht vorstellen können.
Sie war klein und hatte schneeweißes, schön gewelltes dickes Haar, das sorgfältig zu weichem Haarrollen frisiert war. Sie hatte ein fast mädchenhaftes Gesicht, rote Wangen, schön geformte Lippen, große sanfte braune Augen und Grübchen - tatsächlich Grübchen. Sie trug ein sehr elegantes Kleid aus cremefarbenem Musselin mit hellen Rosen darauf - ein Kleid, das an den meisten Frauen ihres Alters lachhaft jugendlich gewirkt hätte, das aber Miss Lavendar so gut stand, dass einem der Gedanke gar nicht erst kam.
»Charlotta die Vierte sagt, dass Sie mich zu sprechen wünschen«, sagte sie mit einer Stimme, die zu ihrem Äußeren passte.
»Wir wollten uns nach dem Weg nach West Grafton erkundigen«, sagte Diana. »Wir sind bei den Kimballs zum Tee eingeladen. Wir haben im Wald den falschen Weg genommen und sind an der Middle-Grafton-Straße herausgekommen statt an der West-Grafton-Straße. Müssen wir am Tor an der Straße nach links oder nach rechts abbiegen?«
»Nach links«, sagte Miss Lavendar mit einem unschlüssigen Blick auf den Teetisch. Dann rief sie, als hätte sie plötzlich einen Entschluss gefasst: »Ach, wollen Sie nicht bei mir zum Tee bleiben? Bitte. Die Kimballs werden längst mit dem Tee fertig sein, bis Sie dort eintreffen. Charlotta die Vierte und ich würden uns schrecklich freuen, wenn Sie bleiben würden.«
Diana sah Anne stumm und fragend an.
»Wir bleiben gern«, sagte Anne sofort, denn sie hatte beschlossen, dass sie mehr über Miss Lavendar wissen wollte. »Wenn es Ihnen nichts ausmacht. Aber Sie erwarten Gäste, nicht wahr?«
Miss Lavendar sah erneut zum Teetisch und wurde rot.
»Sie werden mich sicher für schrecklich albern halten«, sagte sie. »Es ist albern und ich schäme mich, wenn man dahinterkommt. Ich erwarte niemanden, ich habe nur so getan als ob. Verstehen Sie, ich war so allein. Ich habe gern Gesellschaft - das heißt angenehme Gesellschaft. Es verschlägt nur selten einmal jemanden hierher, weil das Haus so weit ab vom Weg liegt. Charlotta die Vierte fühlte sich auch einsam. Also habe ich so getan, als gäbe ich eine Party. Ich habe gekocht, den Tisch geschmückt, ihn mit dem Hochzeitsgeschirr meiner Mutter gedeckt und mich fein gemacht.«
Diana hielt Miss Lavendar insgeheim für so sonderbar, wie sie es sich den Gerüchten nach ausgemalt hatte. Eine Frau von fünfundvierzig Jahren, die sich damit die Zeit vertrieb, so zu tun, als erwarte sie Besuch! Wie ein kleines Mädchen! Aber Anne strahlte und rief erfreut: »Oh, Sie stellen sich auch Sachen vor?«
Das »auch« verriet Miss Lavendar die verwandte Seele.
»Ja«, gab sie beherzt zu. »Natürlich ist es für eine alte Frau wie mich albern. Aber was tut es zur Sache, wenn man schon eine ungebundene alte Jungfer ist, nach Lust und Laune verrückte Dinge zu tun, wo es sowieso niemandem schadet? Der Mensch braucht seinen Ausgleich. Manchmal könnte ich ohne das gar nicht leben, glaube ich. Aber ich werde nur selten dabei ertappt und Charlotta die Vierte verrät es nicht. Aber jetzt freue ich mich, dass ich ertappt wurde, denn Sie sind wirklich und wahrhaftig da. Der Tee ist schon fertig. Seien Sie so nett und gehen Sie ins Wohnzimmer und legen Sie Ihre Hüte ab. Dahinten durch die weiße Tür oben an der Treppe. Ich muss schnell in die Küche und schauen, dass Charlotta die Vierte nicht den Tee kochen lässt. Charlotta die Vierte ist ein liebes Mädchen, aber immer lässt sie den Tee kochen.«
Miss Lavendar verschwand in die Küche. Die Mädchen fanden den Weg zur Garderobe allein, ein Raum, genauso weiß wie die Tür, in den durch ein efeuverhangenes Giebelfenster Licht fiel und der aussah, so sagte Anne, wie ein Ort, an dem schöne
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