Anne in Avonlea
Rachel den Ton an. Es grenzt an ein Wunder, dass er sich überhaupt getraut hat, krank zu werden, ohne sie um Erlaubnis zu fragen. Aber, na ja, ich sollte nicht so daherreden. Rachel war ihm eine gute Frau. Ohne sie hätte er es zu rein gar nichts gebracht, das steht fest. Er ist ein geborener Pantoffelheld. Man kann von Glück sagen, dass er einer klugen, tüchtigen Frau wie Rachel in die Hände gefallen ist. Ihre Art lag ihm. Er ersparte sich damit den Ärger, je selbst einmal eine Entscheidung treffen zu müssen. Davy, hör auf, dich wie ein Aal zu winden.«
»Ich weiß nicht, was ich sonst tun soll«, wandte Davy ein. »Hunger hab ich keinen mehr und dir und Anne beim Essen zuzusehen, macht keinen Spaß.«
»Na los, ihr zwei, ab nach draußen mit euch! Füttert die Hühner«, sagte Marilla. »Und versuch nicht wieder dem weißen Hahn Federn aus dem Schwanz zu rupfen!«
»Ich brauche ein paar für einen Indianerfederschmuck«, sagte Davy düster. »Milty Boulter hat einen tollen aus den Federn, die seine Mutter ihm gegeben hat, als sie den alten weißen Truthahn geschlachtet hat. Ein paar könnte ich doch ausrupfen. Der Hahn hat sowieso viel zu viele, mehr als er braucht.«
»Du kannst den alten Feder-Staubwedel vom Speicher haben«, sagte Anne. »Ich färbe dir die Federn grün, rot und gelb.«
»Du verwöhnst den Jungen viel zu sehr«, sagte Marilla, als Davy mit strahlendem Gesicht Dora brav nach draußen gefolgt war. Marillas Erziehung hatte in den vergangenen sechs Jahren große Fortschritte gemacht. Aber sie hatte sich noch immer nicht von der Vorstellung freimachen können, es schade einem Kind, wenn man ihm in zu vielen Wünschen nachgab.
»Alle Jungen in seiner Klasse haben einen Indianerfederschmuck. Davy möchte auch einen«, sagte Anne. »Ich weiß, wie man sich da fühlt — ich würde nie vergessen, wie sehnlichst ich mir Puffärmel wünschte, als alle anderen Mädchen Kleider mit Puffärmeln hatten. Davy ist nicht verwöhnt. Er macht von Tag zu Tag Fortschritte. Bedenke nur einmal, wie er sich herausgemacht hat, seit er vor einem Jahr hierher kam.«
»Seit er zur Schule geht, heckt er längst nicht mehr so viel aus«, gab Marilla zu. »Er tobt sich bestimmt an den anderen Jungen aus. Aber ich frage mich langsam, warum wir nichts mehr von Richard Keith gehört haben. Seit dem letzten Mai - kein Wort mehr.«
»Ich hätte Angst davor«, seufzte Anne und begann den Tisch abzuräumen. »Falls ein Brief kommen sollte, hätte ich Angst, Richard Keith würde die Zwillinge wollen.«
Einen Monat später kam tatsächlich ein Brief. Aber er stammte nicht von Richard Keith. Einer seiner Freunde schrieb, dass Richard Keith vierzehn Tage zuvor gestorben sei. Der Verfasser des Briefes war der Testamentsvollstrecker. Laut Testament wurden zweitausend Dollar Miss Marilla Cuthbert für David und Dora Keith zu treuen Händen übergeben, bis die Kinder das entsprechende Alter erreichten oder heirateten. Bis dahin sollte das Geld für ihren Unterhalt aufgewendet werden.
»Es ist doch schrecklich, dass man sich über etwas freut, wo erst einer sterben muss«, sagte Anne traurig. »Es tut mir Leid um Mr Keith, aber ich bin froh, dass wir die Zwillinge behalten.«
»Das Geld kommt uns schon sehr gelegen«, sagte Marilla vernünftig. »Ich wollte sie auch gern behalten, aber ich wusste wirklich nicht, wie ich dafür das Geld aufbringen sollte, vor allem wenn sie größer werden. Die Pacht für die Farm reicht gerade für den Haushalt und ich musste mich verpflichten, nicht einen Cent von deinem Geld für sie auszugeben. Du tust ohnehin schon viel zu viel für sie. Dora braucht diesen neuen Hut, den du ihr gekauft hast, so wenig wie eine Katze zwei Schwänze. Aber jetzt ist alles geklärt, jetzt ist für sie vorgesorgt.«
Davy und Dora waren begeistert, als sie hörten, dass sie »für immer« auf Green Gables bleiben durften. Der Tod eines Onkels, den sie nie gesehen hatten, berührte sie nicht. Aber Dora hatte eine Befürchtung.
»Wurde Onkel Richard begraben?«, flüsterte sie Anne zu.
»Ja, mein Schatz, natürlich.«
»Er ... er... ist aber nicht wie Mirabel Cottons Onkel, nicht wahr?«, flüsterte sie noch beunruhigter. »Er schleicht doch nicht um anderer Leute Haus, nachdem er beerdigt wurde, nicht wahr, Anne?«
23 - Miss Lavendars Romanze
»Ich werde heute Abend einen Spaziergang nach Echo Lodge machen«, sagte Anne an einem Freitag Nachmittag im Dezember.
»Es sieht nach Schnee aus«, sagte Marilla
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