Anne in Avonlea
Fremder das Kochen, den Festschmaus, das Konfektmachen, das Lachen und das »So-tun-als-ob« beobachtet, so hätte er gewiss gefunden, dass Miss Lavendar und Anne sich ganz und gar nicht würdevoll benahmen, wie es sich für eine alte Jungfer von fünfundvierzig Jahren und eine gesittete Lehrerin gehörte. Als die beiden müde wurden, setzten sie sich auf den Teppich vor dem Kamin im Wohnzimmer. Es wurde nur von dem sanften Feuerschein erhellt und roch herrlich nach Miss Lavendars Rosen auf dem Kaminsims. Der Wind hatte zugenommen und pfiff ächzend und heulend ums Dach. Schneeflocken schlugen leise gegen die Fenster, so als würden Hunderte von Sturmfeen anklopfen und um Einlass bitten. »Ich bin ja so froh, dass du da bist, Anne«, sagte Miss Lavendar und biss ein Stück von ihrem Konfekt. »Wärst du nicht da, wäre ich traurig, sehr traurig, tieftraurig. Träume und Einbildungen sind am Tage und bei Sonnenschein gut und schön, aber wenn es Nacht wird und stürmt, genügen sie einem nicht. Dann verlangt es einen nach wirklichen Dingen. Aber davon verstehst du nichts - mit siebzehn versteht man davon nichts. Mit siebzehn gibt man sich mit Träumen zufrieden, weil man meint, die wirklichen Dinge würden einen später noch erwarten. Als ich siebzehn war, Anne, habe ich mir nicht vorgestellt, dass ich mit fünfundvierzig eine weißhaarige altejungfer sein würde, die nur mit Träumen ihr Leben füllt.«
»Aber Sie sind keine alte Jungfer«, sagte Anne und sah lächelnd in Miss Lavendars aufgeweckte braune Augen. »Alte Jungfern werden geboren - sie werden nicht dazu.«
»Manche sind geborene alte Jungfrauen, manche werden zu alten Jungfern und manche sind es gezwungenermaßen«, sagte Miss Lavendar scherzhaft und schrullig.
»Dann gehören Sie zu denen, die es geworden sind«, lachte Anne. »Und das haben Sie so gut gemeistert, dass, wenn alle alten Jungfern wie Sie wären, es Mode werden könnte.«
»Ich tue eben immer mein Bestes«, sagte Miss Lavendar nachdenklich. »Da aus mir nun mal eine alte Jungfer werden musste, wollte ich eine nette altejungfer sein. Die Leute halten mich für merkwürdig. Aber das liegt nur daran, dass ich meinen eigenen Weg gehe und nicht das herkömmliche Bild einer alten Jungfer abgebe. Anne, hat dir je jemand von Stephen Irving und mir erzählt?«
»Ja«, sagte Anne ehrlich, »dass Sie beide einmal verlobt waren.«
»Das waren wir, vor fünfundzwanzig Jahren, vor einer Ewigkeit. Im Frühjahr darauf hatten wir heiraten wollen. Ich hatte mein Hochzeitskleid fertig, aber das wussten nur meine Mutter und Stephen. Man könnte sagen, wir waren fast von klein auf miteinander verlobt.
Als Stephen noch ein kleiner Junge war, brachte seine Mutter ihn mit, wenn sie meine Mutter besuchte. Das zweite Mal, als er kam - er war neun, ich sechs -, sagte er draußen im Garten zu mir, dass er sich endgültig entschieden hatte und mich heiraten wolle, wenn er groß sei. Ich erinnere mich, dass ich sagte: >Danke<. Als sie gegangen waren, erzählte ich meiner Mutter ganz ernst, dass mir ein Stein vom Herzen gefallen wäre, weil ich jetzt keine Angst mehr haben müsse, eine alte Jungfer zu werden. Wie meine Mutter gelacht hat!«
»Und was ist schief gelaufen?«, fragte Anne atemlos.
»Wir hatten einen dummen, albernen, banalen Streit. Einen so banalen Streit, ob du es glaubst oder nicht, dass ich mich nicht einmal mehr erinnere, wie es dazu kam. Ich weiß kaum mehr, wer mehr schuld daran war. Stephen hat angefangen, aber ich habe ihn durch irgendeine Dummheit dazu gebracht. Es gab da den einen oder anderen Rivalen, verstehst du. Ich war eitel und kokett und machte mir einen Spaß daraus, ihn ein wenig zu necken. Er war sehr empfindlich. Wir sind im Zorn auseinander gegangen. Ich dachte, es würde sich wieder einrenken. Es hätte sich auch wieder eingerenkt, wäre Stephen nicht allzu bald wieder gekommen. Anne, meine Liebe, es ist nun mal so«, Miss Lavendar senkte die Stimme, so als wäre sie im Begriff einen Mord einzugestehen, »dass ich entsetzlich leicht einschnappe. Oh. du brauchst nicht zu lachen, es ist nur zu wahr. Ich schnappe leicht ein. Stephen kam, aber ich war noch immer beleidigt. Ich hörte ihm nicht zu und ich verzieh ihm nicht. Also ging er ein für allemal. Er hatte zu viel Stolz, um noch einmal zu kommen. Dann war ich eingeschnappt, weil er nicht kam. Ich hätte ihn herbitten können, aber dazu wollte ich mich nicht herablassen. Ich hatte genau wie er meinen Stolz - Stolz und
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