Anne in Avonlea
»Denn zufällig ist er schon verheiratet. Ich bin seine Frau. Oh, da bist du überrascht. Vermutlich hat er sich als Junggeselle ausgegeben und sich als wahrer Herzensbrecher aufgespielt. So, James A.«, sagte sie und nickte heftig mit dem Kopf in Richtung des länglichen weißen Hauses hinter den Feldern, »der Spaß hat ein Ende. Hier bin ich, obwohl ich mir nicht die Mühe gemacht hätte herzukommen, wenn du nicht etwas im Schilde führtest.
Dieser Papagei«, sie wandte sich Anne zu, »flucht wohl noch genau wie eh und je?«
»Sein Papagei... ist tot... glaube ich«, keuchte die arme Anne, die in diesem Augenblick nicht einmal mehr ihren eigenen Namen mit Bestimmtheit kannte.
»Tot. Dann ist alles in Ordnung«, rief die Dame glücklich. »Mit James A. werde ich schon fertig, wenn mir nur dieser Vogel nicht mehr dazwischenfunkt.«
Mit diesen rätselhaften Worten machte sie sich auf den Weg, während Anne zur Küchentür stürzte, an der Marilla stand.
»Anne, wer war die Frau?«
»Marilla«, sagte Anne ernst, aber mit blitzenden Augen, »sehe ich aus, als wäre ich verrückt?«
»Nicht mehr als sonst«, sagte Marilla, ohne sarkastisch sein zu wollen.
»Gut, meinst du, ich träume?«
»Anne, was redest du für einen Unsinn. Wer war die Frau, habe ich gefragt?«
»Marilla, wenn ich nicht verrückt bin und auch nicht träume, dann muss es sie wirklich geben. So einen Hut hätte ich mir auch nie und nimmer in meiner Phantasie ausmalen können. Sie sagt, sie sei Mr Harrisons Frau, Marilla.«
Marilla starrte sie an.
»Seine Frau! Anne Shirley! Wieso hat er dann gesagt, er sei nicht verheiratet?«
»Das hat er nie ausdrücklich gesagt«, sagte Anne gerechterweise. »Er hat nie gesagt, er wäre nicht verheiratet. Die Leute haben es nur selbstverständlich angenommen. Oh, Marilla, was Mrs Lynde wohl dazu sagen wird?«
Was Mrs Lynde dazu sagen wird, fanden sie bei ihrem Besuch am selben Abend heraus. Mrs Lynde verwunderte es überhaupt nicht! Mrs Lynde hatte schon immer irgend so etwas erwartet! Mrs Lynde hatte gleich geahnt, dass es irgendwas mit Mr Harrison auf sich hatte!
»Seine Frau im Stich zu lassen!«, sagte sie empört. »Davon liest man nur in den Staaten. Wer hätte so was hier in Avonlea für möglich gehalten?«
»Aber wir wissen doch gar nicht, ob er seine Frau verlassen hat«, protestierte Anne und war fest entschlossen, so lange an die Unschuld ihres Freundes zu glauben, bis seine Schuld bewiesen war. »Wir wissen überhaupt nicht, wie es wirklich war.«
»Nun, das werden wir bald wissen. Ich gehe gleich hin«, sagte Mrs Lynde, die nie gelernt hatte, dass es im Lexikon ein Wort wie Takt gab. »Von ihrer Ankunft weiß ich angeblich ja nichts. Mr Harrison wollte heute aus Carmody Medizin für Thomas mitbringen, also habe ich einen guten Vorwand. Ich werde der Sache auf den Grund gehen, auf dem Rückweg vorbeikommen und euch berichten.«
Mrs Lynde stürmte los, wo Anne Angst gehabt hätte, auch nur einen Schritt zu unternehmen. Nichts hätte Anne dazu bewegen können, zu Mr Harrison zu gehen. Aber sie hatte ebenfalls eine natürliche, normale Neugier und war insgeheim froh, dass Mrs Lynde hingehen und das Rätsel lösen würde. Sie und Marilla warteten sehnsüchtig auf ihre Rückkehr, aber sie warteten vergebens. Mrs Lynde tauchte an dem Tag nicht wieder auf Green Gables auf. Davy, der um neun Uhr von den Boulters zurückkam, erklärte, warum.
»Ich hab im Hohlweg Mrs Lynde und eine fremde Frau getroffen«, sagte er. »Lieber Himmel, wie sie aufeinander einschwatzten! Von Mrs Lynde soll ich ausrichten, es täte ihr Leid, aber es wäre zu spät, um noch einmal vorbeizukommen. Anne, ich bin schrecklich hungrig. Wir haben um vier Uhr bei Milty Tee getrunken, und ich glaube, Mrs Boulter ist wirklich geizig. Sie hat uns kein Kompott und keinen Kuchen gegeben. Und das Brot schmeckte auch komisch.«
»Davy, wenn du bei jemand auf Besuch bist, sollst du nicht am Essen herummäkeln«, sagte Anne scharf. »Das gehört sich nicht.«
»Schon gut, ich denke es ja nur im Stillen«, sagte Davy munter. »Gib mir doch was zum Abendessen, Anne.«
Anne sah Marilla an, die ihr in die Speisekammer folgte und sorgsam die Tür schloss.
»Du kannst ihm Brot mit etwas Kompott geben, Anne. Ich weiß, was Tee bei Levi Boulter heißt.«
Davy nahm die Scheibe Brot mit Kompott seufzend entgegen.
»Die Welt ist enttäuschend«, bemerkte er. »Milty hat eine Katze, die Anfälle kriegt - sie hatte drei Wochen lang
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