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Anne in Avonlea

Anne in Avonlea

Titel: Anne in Avonlea Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lucy Maud Montgomery
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alle noch am Leben«, sagte Marilla grimmig, »und das Haus wurde auch nicht getroffen. Ich hoffe, ihr habt es auch gut überstanden.«
    »Ja. Nein, nicht so ganz. Wir wurden vom Blitz getroffen. Er ist in den Küchenschornstein eingeschlagen, kam durch den Kamin, hat Gingers Käfig umgestürzt, hat ein Loch in den Fußboden gerissen und ist in den Keller geschossen. Ja.«
    »Hat Ginger etwas abbekommen?«, erkundigte sich Anne.
    »Ja. Ziemlich viel. Er ist tot.«
    Später ging Anne zu Mr Harrison, um ihn zu trösten. Er saß am Tisch und streichelte mit zitternder Hand das bunte Gefieder des toten Ginger.
    »Armer Ginger, er wird dich nicht mehr beschimpfen, Anne«, sagte er traurig.
    Anne hätte nie geglaubt, dass sie um Ginger weinen würde, aber ihr traten Tränen in die Augen.
    »Er war meine einzige Gesellschaft, Anne, und jetzt ist er tot. Ach ja, ach ja, ich bin ein alter Narr, dass ich mir so viel daraus mache. Ich tu so, als ob es mir nichts ausmacht. Ich weiß, dass du mir dein Beileid aussprechen wirst, sobald ich aufhöre zu reden. Aber tu’s nicht. Wenn du was sagst, heule ich wie ein kleines Kind. War das nicht ein furchtbarer Sturm? Nie wieder werden die Leute über Onkel Abes Vorhersagen lachen. Scheint, dass all die Stürme, die er in seinem Leben schon vorhergesagt hat und nicht eingetroffen sind, alle zugleich gekommen sind. Das schlägt alles, wie er den richtigen Tag getroffen hat, nicht wahr? Sieh dir das Durcheinander hier an. Ich muss mich durchkämpfen und ein paar Bretter holen, um das Loch im Fußboden auszubessern.«
    Die Bewohner von Avonlea waren tags darauf ausschließlich damit beschäftigt, einander zu besuchen und die Schäden zu vergleichen. Die Straßen waren für Wagen unpassierbar, also ging man zu Fuß oder nahm das Pferd. Die Zeitung kam sehr spät und meldete aus der ganzen Provinz schlimme Verwüstungen, ln Häuser war der Blitz eingeschlagen, es gab Tote und Verletzte. Das gesamte Telefon- und Telegraphennetz war zerstört, die Neuaussaat vernichtet worden. Onkel Abe bahnte sich früh am Morgen den Weg hinaus zum Laden und brachte den ganzen Tag dort zu. Das war Onkel Abes Stunde des Triumphs. Er genoss es in vollen Zügen. Man täte ihm Unrecht, wollte man behaupten, er hätte sich über den Sturm gefreut. Aber da es nun einmal dazu gekommen war, war er froh, dass er ihn vorhergesagt hatte ... noch dazu genau auf den Tag. Onkel Abe vergaß, dass er geleugnet hatte, je den Tag genannt zu haben. Dass die genaue Uhrzeit unbedeutend abwich, das galt nichts.
    Am Abend kam Gilbert nach Green Gables und traf Marilla und Anne dabei an, wie sie emsig damit beschäftigt waren, Wachstuchstreifen über die zerborstenen Fenster zu nageln.
    »Gott mag wissen, wann wir dafür Glas bekommen«, sagte Marilla. »Mr Barry war heute in Carmody, aber nicht für Geld und gute Worte war eine Scheibe aufzutreiben. Lawson und Blair waren schon um zehn Uhr ausverkauft, alles an die Leute aus Carmody. War es in White Sands schlimm mit dem Sturm, Gilbert?«
    »Das kann man wohl sagen. Ich saß mit allen Kindern in der Schule gefangen und dachte, einige würden vor Angst durchdrehen. Drei fielen in Ohnmacht, zwei Mädchen bekamen einen Schreikrampf und Tommy Blewett hat die ganze Zeit geheult.«
    »Ich hab nur einmal geheult«, sagte Davy stolz, »ln meinem Garten liegt alles platt am Boden«, fuhr er traurig fort. »Aber in Doras auch«, fügte er in einem Tonfall hinzu, der erkennen ließ, dass das für ihn wie Balsam war.
    »Oh, Gilbert, weißt du schon das Neueste? Mr Levi Boulters altes Haus wurde vom Blitz getroffen und ist bis auf die Grundmauern abgebrannt. Ich komme mir richtig schlecht vor, dass ich mich darüber freue, wo so viel verwüstet wurde. Mr Boulter glaubt, der D.V.V. hätte den Sturm heraufbeschworen.«
    »Naja, eins ist sicher«, sagte Gilbert lachend. »Der >Beobachter< hat Onkel Abe den Ruf eines Wetterpropheten verschafft. >Onkel Abes Sturm< wird in die Dorfgeschichte eingehen. Es ist schon ein seltener Zufall, dass er an genau dem Tag kam, den wir ausgesucht haben. Ich fühle mich direkt schuldig, so als hätte ich ihn wirklich >heraufbeschworen<. Wir können uns doch freuen, dass das alte Haus verschwunden ist, denn was unsere jungen Bäume angeht, da gibt es nichts zum Freuen. Keine zehn haben den Sturm heil überstanden.«
    »Ja, dann müssen wir nächstes Frühjahr eben wieder neue pflanzen«, sagte Anne weise. »Wenigstens etwas Gutes gibt es auf der Welt -der nächste

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