Anne in Kingsport
Street 38.«
»Besser geht es ja gar nicht. So was, ich wohne direkt um die Ecke in der Wallace Street. Obwohl mir meine Unterkunft nicht gefällt. Sie ist öde und einsam und meine Zimmer gehen auf einen furchtbar hässlichen Hinterhof. Es ist der hässlichste Hinterhof der Welt. Und diese Katzen - na ja, nicht dass sich alle Katzen von Kingsport nachts dort versammeln, aber die Hälfte ist es mindestens. Ich mag Katzen auf Kaminvorlegern, wenn sie vor einem Feuer ihr Nickerchen halten, aber Katzen zu mitternächtlicher Stunde in Hinterhöfen erkennt man nicht wieder, in der ersten Nacht habe ich nur mit den Katzen um die Wette geschrien. Ihr hättet mich am Morgen sehen sollen. Ich habe ja so gewünscht, ich wäre nie von zu Hause weggegangen!«
»Wie hast du es denn überhaupt fertig gebracht, dich zu entscheiden, ans Redmond zu gehen, wenn du wirklich immer so unschlüssig bist?«, sagte Priscilla amüsiert.
»Du meine Güte, Herzchen, das war nicht ich. Mein Vater wollte es. Er war ganz erpicht darauf - keine Ahnung warum. Ich und einen Studienabschluss - das ist direkt lächerlich. Aber ich werde es schon schaffen. Ich habe nämlich Köpfchen.«
»Oh!«, sagte Priscilla unbestimmt.
»Ja. Aber es strengt so an, seinen Kopf zu gebrauchen. Nein, ich wollte nicht ans Redmond. Ich bin nur meinem Vater zuliebe hergekommen. Das ist schon einer. Außerdem hätte ich heiraten müssen, wenn ich zu Hause geblieben wäre. Mutter wollte es - wollte es ganz entschieden. Mutter ist eine entschlossene Frau. Aber die nächsten paar Jahre hatte ich das eigentlich noch nicht vor. Erst will ich noch was vom Leben haben. Ich und heiraten - die Vorstellung ist noch absurder! Ich bin erst achtzehn. Nein, also beschloss ich, lieber ans College zu gehen. Außerdem, wie hätte ich mich je entscheiden können, wen ich heirate?«
»Standen denn so viele zur Auswahl?«, fragte Anne lachend. »Jede Menge. Die Jungen sind in mich vernarrt - ehrlich. Aber da waren nur zwei, die in Frage kamen. Alle anderen waren zu jung und zu arm. Ich muss nämlich einen reichen Mann heiraten.«
»Warum denn das?«
»Ihr könnt euch mich doch wohl nicht als die Frau eines armen Mannes vorstellen, oder? Ich verstehe mich nicht auf irgendwelche praktischen Dinge und ich bin sehr extravagant. O nein, mein Mann muss jede Menge Geld haben. Also standen nur noch zwei zur Debatte. Aber ich konnte mich zwischen zweien nicht leichter entscheiden, als ich es zwischen zweihundert könnte. Ich wusste genau, für wen ich mich auch entschieden hätte, ich hätte mein Leben lang bedauert, nicht den anderen geheiratet zu haben.«
»Hast du denn einen von beiden ... geliebt?«, fragte Anne ein wenig zögernd.
»Du liebe Güte, nein. Ich konnte einfach keinen von beiden gern haben. Das ist nicht meine Art. Außerdem würde ich es nicht wollen. Liebe macht einen zum Sklaven, finde ich. Und es gibt einem Mann die Macht, einen zu verletzen. Davor hätte ich Angst. Nein, nein, Alec und Alonzo sind zwei liebe und nette Jungen und ich kann beide so gut leiden, dass ich wirklich nicht sagen kann, wen von beiden ich lieber mag. Das ist das Problem. Alec sieht am besten aus und einen hässlichen Mann könnte ich sowieso nie heiraten. Er ist auch gutmütig und er hat schöne schwarze Locken. Er ist fast zu vollkommen - ein vollkommener Ehemann würde mir auch wieder nicht Zusagen. Ich konnte keinen Fehler an ihm entdecken.«
»Warum heiratest du dann nicht Alonzo?«, fragte Priscilla ernst.
»Stell dir das vor, mit jemand verheiratet zu sein, der Alonzo heißt!«, sagte Phil traurig. »Ich glaube, ich würde es nicht aushalten. Aber er hat eine klassisch schöne Nase, meine kann da nicht mithalten. Ich habe eine Schwäche für hübsche Nasen. Du hast eine wahnsinnig schöne Nase, Anne Shirley. Fast hätte seine Nase den Ausschlag für Alonzo gegeben. Aber Alonzo! Nein, ich konnte mich nicht entscheiden. Wenn ich es so hätte machen können wie mit den Hüten - sie nebeneinander stellen, die Augen zumachen und mit einer Flutnadel nach ihnen zielen -, dann wäre es ein Kinderspiel gewesen.«
»Wie fanden Alec und Alonzo es denn, dass du fortgegangen bist?«, fragte Priscilla.
»Oh, sie machen sich noch Hoffnungen. Ich habe ihnen gesagt, sie müssten sich gedulden, bis ich mich entscheiden könnte. Sie sind bereit zu warten. Sie verehren mich alle beide, wisst ihr. Aber bis dahin will ich mein Leben erst noch richtig genießen. Am Redmond werde ich mich sicher vor Verehrern
Weitere Kostenlose Bücher