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Anne in Kingsport

Titel: Anne in Kingsport Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lucy Maud Montgomery
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verlassen hatte. Ihr kam es vor, als wäre eine endlose Zeit vergangen, so wie es einem nach einem Reisetag mit all den vielen neuen Eindrücken geht.
    »Derselbe Mond scheint jetzt auch auf Green Gables«, dachte sie. »Aber ich will nicht daran denken - dann bekomme ich nur Heimweh. Weinen werde ich auch nicht. Das verschiebe ich auf ein andermal. Jetzt gehe ich wohl am besten erst einmal schlafen.«

04 - Ungewissheiten
    Kingsport ist eine malerische Stadt, deren altertümliche Ausstrahlung einen in Bann zieht. Hier und da schießt Modernes aus dem Boden, aber im Kern ist sie noch immer ursprünglich. Es gibt eine Fülle kurioser alter Bauten. Einst war Kingsport nicht mehr als eine Grenzstation am Rande der Wildnis. Dann wurde es zum Zankapfel zwischen den Briten und Franzosen, war einmal von den einen, dann von den anderen besetzt und ging aus jeder Belagerung mit ein paar neuen Narben hervor.
    Im Park steht ein Martelloturm, der über und über bekritzelt ist mit den Namen von Touristen. Auf den Hügeln gegenüber der Stadt gibt es ein verfallenes Fort der Franzosen und auf einigen öffentlichen Plätzen stehen alte Kanonen. Es gibt noch andere historische Sehenswürdigkeiten, aber keine ist malerischer als der Friedhof Old St. John’s im Herzen der Stadt. An zwei Seiten liegen ruhige Straßen mit altertümlichen Häusern, an den anderen beiden Seiten geschäftige, lärmige Durchgangsstraßen. Die Bewohner von Kingsport, wenn sie denn auf etwas stolz sind, sind besonders stolz auf Old St. John’s, denn jeder hat mindestens einen Vorfahren, der dort begraben liegt. Die Gräber weisen eigentümliche Grabsteine auf oder Grabplatten, auf denen alle wichtigen Lebensdaten vermerkt sind. Die meisten dieser Grabsteine sind nicht sonderlich kunstreich oder fachmännisch gearbeitet, sondern bestehen aus grob gemeißeltem braunem oder grauem Naturstein. Nur ein paar weisen Verzierungen auf. Manche sind mit Totenköpfen über gekreuzten Knochen versehen und zeigen neben dieser gruseligen Verzierung einen Engelskopf. Viele sind umgestürzt und zertrümmert. Die allermeisten sind vom Zahn der Zeit zerfressen, sodass die Inschriften völlig unleserlich oder nur noch mühsam zu entziffern sind.
    Am folgenden Nachmittag machte Anne den ersten von vielen Spaziergängen zum Friedhof. Am Vormittag waren Priscilla und sie am Redmond gewesen und hatten sich eingeschrieben, Unterricht fand an dem Tag noch nicht statt. Froh machten sich die Mädchen auf den Weg, denn es war nicht gerade aufmunternd gewesen, von so vielen fremden Gesichtern umgeben zu sein, von denen die meisten ebenso befremdet dreinsahen.
    »Das hätte ich mir nicht träumen lassen, dass der Tag kommen würde, wo ich mich über den Anblick eines Sloane freuen würde«, sagte Priscilla, als sie über den Campus gingen, »aber Charlies Glotzaugen zu sehen hat mich regelrecht entzückt. Die zumindest waren vertraut.«
    »Ich kann dir gar nicht sagen«, seufzte Anne, »wie mir zu Mute war, als ich dastand und wartete, bis ich mit der Einschreibung an der Reihe war - so unbedeutend wie der winzigste Tropfen in einem riesengroßen Eimer. So als wäre ich mit bloßem Auge gar nicht zu sehen und als könnten ein paar von diesen Zweitsemestern auf mich drauftreten.«
    »Warte das nächste Jahr ab«, tröstete Priscilla sie. »Dann können wir so gelangweilt und erfahren dreinsehen wie alle Zweitsemester zusammen. Bestimmt ist es schlimm, sich unwichtig vorzukommen. Aber das wäre mir immer noch lieber, als dass ich mir so riesig und linkisch vorkomme, so als würden sich alle meine Gliedmaßen übers ganze Redmond erstrecken. Das Gefühl hatte ich nämlich - wahrscheinlich weil ich alle um gut fünf Zentimeter überrage. Ich hatte keine Angst, einer aus dem Zweitsemester könnte mich überrennen. Ich hatte eher Angst, man würde mich für einen Elefanten halten oder für ein übergroßes Exemplar von einem kartoffelfressenden Insulaner.«
    »Das große Redmond ist eben nicht das kleine Queen’s«, sagte Anne und nahm das letzte Quentchen ihrer heiteren Gelassenheit zusammen, um sich keine Blöße zu geben. »Als wir das Queen’s verließen, kannten wir jeden und wussten, wo wir hingehörten. Unbewusst haben wir wohl gedacht, am Redmond könnten wir nahtlos an Queen’s anknüpfen, und jetzt ist uns, als wäre uns der Boden unter den Füßen weggezogen worden. Zum Glück wissen weder Mrs Lynde noch Elisha Wright, wie mir im Augenblick zu Mute ist, und werden es auch nie

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