Anne in Kingsport
Eroberung.
»Alec und Alonzo scheinen bislang also noch keine ernst zu nehmenden Rivalen zu haben«, bemerkte Anne neckend. »Nicht einen«, stimmte Philippa zu. »Ich schreibe den beiden jede Woche und berichte ihnen von den Jungen hier. Es amüsiert sie bestimmt. Aber den, der mir am besten gefällt, kann ich natürlich nicht haben. Gilbert Blythe nimmt mich einfach nicht zur Kenntnis. Den Grund kenne ich genau. Ich bin dir böse, liebe Anne. Eigentlich müsste ich dich hassen, stattdessen kann ich dich schrecklich gut leiden. Du bist eben anders als die Mädchen, die ich sonst kenne. Ist das Collegeleben nicht herrlich? Wie ich es am ersten Tag gehasst habe! Aber wäre es anders gewesen, dann hätte ich euch vielleicht nicht kennen gelernt. Anne, sage mir doch noch mal, dass du mich auch ein kleines bisschen leiden kannst. Ich höre es so gern.«
»Ich kann dich ein großes bisschen leiden«, lachte Anne. »Aber Phil, eins begreife ich nicht: Woher nimmst du eigentlich noch die Zeit zum Lernen?«
Phil musste sich die Zeit nehmen, denn sie schnitt regelmäßig gut ab. Selbst der mürrische Mathematik-Professor, der Studentinnen nicht leiden konnte und entschieden dagegen war, dass am Redmond Mädchen zugelassen wurden, brachte sie nicht zur Strecke. Sie war in allen Fächern die Beste, außer in Englisch, denn darin schlug Anne sie um Längen.
Anne fiel das erste Collegejahr leicht, vor allem weil Gilbert und sie während der letzten zwei Jahre in Avonlea schon regelmäßig gelernt hatten. So blieb ihr mehr Zeit für Unternehmungen, die sie in vollen Zügen genoss. Aber nicht einen Augenblick vergaß sie Avonlea und ihre alten Freunde. Die glücklichsten Momente der Woche waren die, wenn sie Briefe von zu Hause bekam. Mit dem ersten Schwung kamen ganze sechs Briefe zugleich an: von Jane Andrews, Ruby Gillis, Diana Barry, Marilla, Mrs Lynde und Davy. Jane schrieb wie gestochen -jedes »t« hatte einen schönen Querstrich und jedes »i« einen penibel gesetzten Punkt. Dafür enthielt der Brief aber auch nicht eine einzige interessante Zeile. Mit keinem Wort erwähnte sie die Schule, wo Anne gerade darüber gern etwas erfahren hätte. Sie antwortete auch nicht auf die Fragen aus Annes letztem Brief. Ruby Gillis beschrieb in den schillerndsten Farben und in aller Ausführlichkeit, wie schade es war, dass Anne nicht mehr in Avonlea war, dass man sie an allen Ecken und Enden schrecklich vermisste, fragte, wie die »Jungs« am Redmond wären, und berichtete im Übrigen von ihren herzzerreißenden Erlebnissen mit ihren vielen Freunden. Es war ein alberner, harmloser Brief und Anne hätte ihn belächelt, wäre da nicht noch ein Nachsatz gewesen. »Gilbert Blythe scheint es am Redmond zu gefallen, jedenfalls schreibt er das«, schrie Ruby. »Charlie ist wohl nicht so begeistert.«
Gilbert schrieb also Ruby! Bitte. Es war natürlich sein gutes Recht. Nur.. .Anne konnte ja nicht wissen, dass Ruby ihm zuerst geschrieben und Gilbert ihr aus reiner Höflichkeit geantwortet hatte. Sie warf Rubys Brief verächtlich zur Seite. Erst nach Dianas langem, erfrischenden Brief mit all den Neuigkeiten legte sich ihre Wut auf Ruby. In Dianas Brief war zwar etwas zu oft von Fred die Rede, andererseits enthielt er aber so viele interessante Nachrichten, dass Anne sich beim Lesen fast nach Avonlea zurückversetzt fühlte. Marillas Brief war ziemlich förmlich und nichts sagend, und doch vermittelte er Anne einen Hauch von dem guten, einfachen Leben auf Green Gables. Mrs Lyndes Brief enthielt jede Menge Neuigkeiten über Kirchendinge. Seit sie ihr Haus aufgegeben hatte, hatte sie mehr Zeit denn je dafür und sich mit Leib und Seele draufgestürzt. Derzeit regten sie am meisten die schlechten »Aushilfs-Pfarrer« auf, mit denen sie sich in Avonlea herumschlagen mussten, seit die Kanzel verwaist war.
»Heutzutage scheint man es bei Pfarrern nur noch mit Trotteln zu tun zu haben«, schrieb sie bitter. »Man muss sich nur mal die Kandidaten ansehen, die man uns schickt, und dann erst die Predigten! Die Hälfte davon stimmt nicht, aber was noch schlimmer ist, es entspricht nicht der Lehre. Der, den wir im Augenblick haben, schlägt alles bisher Dagewesene. Meist liest er ein Bibelzitat vor und predigt dann über etwas ganz anderes. Und er sagt, er glaube nicht, dass all die Heiden auf ewig verloren wären. Das muss man sich einmal vorstellen! Als ob dann nicht all das Geld, das wir für die Mission gespendet haben, schlicht zum Fenster
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