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Anne in Kingsport

Titel: Anne in Kingsport Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lucy Maud Montgomery
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und rasenden Kopfschmerzen aufgewacht. Ganz klar, ich hatte mich angesteckt. Voller Panik bin ich aufgestanden und habe in Kusine Emilys >Buch der Krankheiten< gestöbert, um die Symptome nachzulesen. Anne, ich hatte sämtliche Symptome. Also bin ich wieder ins Bett gegangen und habe, aufs Schlimmste gefasst, den Rest der Nacht geschlafen wie ein Stein. Heute Morgen war ich wieder munter, also kann es kein Scharlach gewesen sein. Hätte ich mich tatsächlich angesteckt, dann wäre ich nicht so schnell wieder auf dem Damm gewesen. Am helllichten Tage ist mir das schon klar, aber mitten in der Nacht um drei kann ich nicht logisch denken.
    Du wunderst dich vielleicht, wieso ich in Prospect Point bin. Also, einen Monat jedes Jahr gehe ich ans Meer. Vater will, dass ich in der exklusiven Pension meiner Kusine zweiten Grades, Emily, in Prospect Point wohne. Also bin ich wie üblich vor zwei Wochen hierher gefahren. Nun beherbergt Kusine Emily außer mir noch fünf Gäste - vier alte Damen und einen jungen Mann.
    Gleich als ich ankam, fiel mir der junge Mann ins Auge, wie er mich anlächelte, als würde er mich schon ewig kennen. Onkel Mark hatte mir erzählt, dass er Jonas Blake heißt, dass er am St. Columbia Theologie studiert und dass er diesen Sommer die Pfarrstelle an der Prospect-Point-Kirche versieht.
    Er ist ausgesprochen hässlich - ehrlich, der hässlichste Mann, der mir je über den Weg gelaufen ist. Er ist groß und schlaksig und hat grotesk lange Beine. Er hat strohige Haare, grüne Augen, einen großen Mund, und seine Ohren - aber das verdränge ich möglichst. Allerdings hat er eine schöne Stimme -und einen guten Charakter.
    Wir haben uns auf Anhieb gut verstanden. Er hat das Redmond absolviert, was uns natürlich verbindet. Wir waren zusammen beim Angeln, sind Boot gefahren und im Mondschein am Strand spazieren gegangen. Er war ja so nett! Er sprühte förmlich vor Nettigkeit. Die alten Damen - bis auf Mrs Grant - können Jonas nicht leiden, weil er viel lacht und Witze macht - und weil er meine Gesellschaft der ihren vorzieht, auch wenn ich oberflächlich bin.
    Irgendwie will ich nicht, dass er mich für oberflächlich hält. Es ist lächerlich. Was sollte es mir schon ausmachen, was ein Mensch namens Jonas mit strohigen Haaren, den ich kaum kenne, von mir denkt?
    Am letzten Sonntag hat Jonas die Predigt gehalten. Ich bin natürlich hingegangen, aber ich konnte gar nicht fassen, dass tatsächlich Jonas es war, der da auf der Kanzel stand. Dass er Pfarrer ist - oder werden will kam mir wie ein Riesenscherz vor.
    Nun, Jonas hat also gepredigt. Nach zehn Minuten Predigt kam ich mir so klein und unbedeutend vor, dass ich schon glaubte, dass ich mit bloßem Auge gar nicht mehr zu sehen war. Mir wurde immer klarer, was für ein erbärmliches, nichtiges, kleingeistiges, flatterhaftes Geschöpf ich doch bin und dass seine Vorstellung von seiner Traumfrau eine ganz andere sein musste. Sie müsste stolz und stark sein. Er ist ernst und sanft und aufrichtig. Er ist genauso, wie ein Pfarrer sein sollte. Ich fragte mich, wie ich ihn je hässlich finden konnte -obwohl er das eindeutig ist!
    Es war eine großartige Predigt. Ich hätte ihm ewig zuhören können, obwohl ich mich immer erbärmlicher fühlte. Oh, ich habe mir so gewünscht, ich wäre wie du, Anne.
    Auf dem Heimweg holte er mich ein und lachte fröhlich wie immer. Aber sein Lachen kann mich nicht mehr täuschen. Ich hatte den wahren Jonas gesehen und fragte mich, ob er je die wahre Phil in mir erkennen würde - die niemand, nicht einmal du, Anne, je kennen gelernt hat.
    >Jonas<, sagte ich - ich vergaß, ihn Mr Blake zu nennen. Ist das nicht furchtbar? Aber es gibt Augenblicke, in denen solche Dinge keine Rolle spielen. Jonas, du bist der geborene Pfarrer. Ein anderer Beruf käme für dich nicht in Frage.<
    >Ja<, sagte er nüchtern. >Es ist lange her, da wollte ich einmal etwas anderes werden - auf gar keinen Fall Pfarrer. Aber schließlich wurde mir klar, dass es der einzige Beruf ist, der für mich in Frage kommt - und so Gott will, werde ich meine Arbeit gut machen.< Er sprach leise und ehrfürchtig. Ich glaube, dass er seine Arbeit schaffen und sie gut und ordentlich machen wird. Und glücklich die Frau, die zu ihm passt und ihm in seinem Beruf zur Seite steht! Sie darf nicht wie eine Feder im Wind sein, die vom kleinsten Windhauch umgeblasen wird.
    Anne Shirley, nicht dass du jetzt meinst oder denkst, ich wäre in Jonas verliebt. Könnte ich mir aus

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