Anne in Kingsport
seiner Mutter nicht gut ging, und mit ihr nach Übersee fahren - sein Vater lebt nicht mehr. Huhu! Anne! Eine Romanze liegt in der Luft. Fast beneide ich dich, aber auch nur fast. Roy Gardner ist schließlich nicht Jonas.«
»Dumme Gans!«, sagte Anne hochmütig. Aber sie lag lange wach in der Nacht und wollte auch gar nicht schlafen. War der Märchenprinz gekommen? Wenn sie daran dachte, wie er ihr tief in die Augen geblickt hatte, dann glaubte Anne es ganz fest.
26 - Christine kommt ins Spiel
Die Mädchen zogen sich für das Fest an, das die Erstsemester im Februar für die höheren Semester veranstalteten. Anne betrachtete sich zufrieden im Spiegel im blauem Zimmer. Sie trug ein besonders hübsches Kleid. Alle schauten darauf, als sie die Eingangstreppe am Redmond hinaufging.
Anne steckte sich probehalber eine weiße Orchidee ins Haar. Roy Gardner hatte sie ihr für das Fest geschickt - da kam Phil mit staunenden Blicken herein.
»Anne, heute hast du die Nase vorn. Meist stehle ich dir die Schau. Aber diesmal stellst du mich weit in den Schatten. Wie machst du das?«
»Das liegt am Kleid. Kleider machen Leute.«
»Ist nicht wahr. Gestern warst du auch schon so hübsch, dabei hattest du die alte blaue Flanellbluse an, die Mrs Lynde dir genäht hat. Hättest du Roy nicht schon den Kopf verdreht, dann würde es heute passieren. Aber Orchideen stehen dir nicht, Anne. Nicht, dass ich neidisch wäre. Aber sie passen einfach nicht zu dir. Sie sind zu exotisch. Lass sie besser weg.«
»Na gut. Mir gefallen Orchideen eh nicht besonders, das weiß Roy auch. Er schenkt mir auch nur selten einmal welche.«
»Jonas hat mir für heute Abend wunderschöne rote Rosen geschickt - aber ... er selbst kommt nicht. Er hält heute eine Messe im Arme-Leute-Viertel! Ich glaube auch nicht, dass er Lust hatte zu kommen. Ich habe ja solche Angst, dass ich ihm vielleicht völlig gleichgültig bin. Vielleicht sollte ich lieber dahinsiechen und sterben, statt den Abschluss zu machen und überhaupt so vernünftig zu werden.«
»Das geht bei dir gar nicht, Phil, also bleibt dir wohl nichts anderes übrig, als dahinzusiechen und zu sterben«, sagte Anne gnadenlos.
»Herzlose Anne!«
»Alberne Phil! Du weißt genau, dass Jonas dich liebt.«
»Aber... er sagt es nicht. Und ich kann ihn doch nicht dazu zwingen. Obwohl es danach aussieht, das stimmt.«
»Er traut sich nur nicht, Phil. Er schwimmt nicht gerade in Geld und kann dir kein Zuhause bieten, wie du es gewohnt bist. Du weißt genau, dass das der einzige Grund ist.«
»Kann schon sein«, stimmte Phil traurig zu. »Also gut«, sagte sie jetzt schon strahlender, »wenn er sich nicht traut, dann frage ich eben ihn. Es kommt schon alles in die Reihe, keine Sorge. Übrigens geht Gilbert Blythe mit Christine Stuart. Wusstest du das schon?«
Anne wollte gerade eine kleine Goldkette anlegen. Plötzlich kam sie kaum mehr mit dem Verschluss zu Rande. Was war damit - oder zitterten ihre Finger?
»Nein«, sagte sie unbekümmert. »Wer ist Christine Stuart?«
»Die Schwester von Ronald Stuart. Sie ist nach Kingsport gezogen und studiert Musik. Ich kenne sie nicht, aber sie soll sehr hübsch sein. Gilbert soll ganz hingerissen sein. Was war ich wütend, als du Gilbert den Laufpass gegeben hast! Aber da sollte ja Roy Gardner auftauchen. Jetzt leuchtet es mir ein. Du hast schon richtig gehandelt.«
Anne fühlte sich mit einem Mal wie leer. Phils Gerede kam ihr trivial vor und das Fest nichts als langweilig. Sie gab dem armen Rusty eins auf die Ohren.
»Wirst du wohl von dem Kissen verschwinden! Geh auf deinen Platz!«
Anne nahm die Orchideen und ging nach unten, wo Tante Jamesina bei den Mänteln saß, die zum Aufwärmen am Kamin hingen. Roy Gardner wartete auf Anne und spielte so lange mit Katze Sarah. Sarah schien ihn nicht leiden zu können. Sie drehte ihm den Rücken zu. Aber alle anderen von Pattys Haus hatten Roy ins Herz geschlossen. Tante Jamesina war ganz hingerissen von seiner ausgesuchten Höflichkeit und hielt ihn für den nettesten jungen Mann weit und breit. Anne könnte sich glücklich schätzen, meinte sie. Solche Bemerkungen machten Anne ganz nervös. Roy war schon sehr romantisch, aber... Sie wünschte, Tante Jamesina und die anderen würden es nicht als feste Sache ansehen. Als Roy ihr in den Mantel half und ein Kompliment zuflüsterte, rieselten ihr keine Schauer über den Rücken. Anne war auf dem kurzen Weg zum Redmond ziemlich schweigsam. Roy fand sie etwas blass,
Weitere Kostenlose Bücher