Anne in Kingsport
euch, die Boulters sind gute Geschäftsleute.«
»Hast du dich bei Mrs Boulter anständig benommen?«, fragte Marilla streng.
»Ja. Aber ich hab es satt, immer brav zu sein.«
»Schlechtes Benehmen hättest du noch viel eher satt, Davy-Schatz«, sagte Anne.
»Hm, aber in der Zeit, wo ich mich schlecht benehme, hab ich wenigstens meinen Spaß«, beharrte Davy. »Hinterher kann ich’s ja bereuen, oder?«
»Die Reue kommt zu spät, Davy. Was habt ihr, Milty und du, heute gemacht?«
»Wir haben geangelt und die Katze gejagt und Eier gesucht und das Echo ausprobiert. Im Wald hinter der Scheune von den Boulters gibt’s nämlich ein ganz tolles Echo. Sag mal, was ist ein Echo, Anne? Das will ich wissen.«
»Das Echo ist eine wunderschöne Nymphe, Davy, die tief in den Wäldern lebt und die Welt auslacht.«
»Wie sieht sie aus?«
»Ihr Haar und ihre Augen sind dunkel, aber der Nacken und ihre Arme sind weiß wie Schnee. Kein Mensch bekommt je zu sehen, wie schön sie ist. Sie ist behänder als ein Reh und alles, was wir von ihr kennen, ist ihre spöttische Stimme. Nachts kannst du sie rufen hören. Aber du kannst sie niemals sehen. Sie fliegt davon, wenn du ihr folgst, und sie ist immer einen Hügel weiter vor dir und lacht dich aus.«
»Ist das wirklich wahr, Anne? Oder ist es eine Mordslüge?«, fragte Davy und starrte sie an.
»Davy«, sagte Anne verzweifelt, »kannst du denn immer noch nicht zwischen einem Märchen und einer Lügengeschichte unterscheiden?«
»Was ist denn nun das Zeugs im Wald bei den Boulters? Das will ich wissen«, drängte Davy.
»Wenn du älter bist, Davy, erklär ich es dir.«
Die Anspielung auf sein Alter lenkte Davy auf ein anderes Thema, denn als er eine Weile nachgedacht hatte, flüsterte er ernst: »Anne, ich will heiraten.«
»Wann?«, fragte Anne ebenso ernst.
»Erst wenn ich groß bin, versteht sich.«
»Hm, da bin ich aber erleichtert. Wer ist die Glückliche?«
»Stella Fletcher. Sie geht in meine Klasse. Weißt du, sie ist das hübscheste Mädchen, das du je gesehen hast. Wenn ich sterbe, bevor ich groß bin, dann kümmerst du dich doch um sie, oder?«
»Davy Keith, hör auf, solchen Unsinn daherzureden«, sagte Marilla streng.
»Ist kein Unsinn«, protestierte Davy beleidigt. »Sie hat versprochen, dass sie mich heiratet, und wenn ich sterben sollte, dann ist sie doch meine Witwe, oder? Und sie hat keine Menschenseele, mal abgesehen von ihrer alten Großmutter.«
»Komm, iss, Anne«, sagte Marilla, »und kümmere dich nicht um sein albernes Geschwätz.«
23 - Pauls vergebliche Suche nach den Felsen-Menschen
Der Sommer verlief eigentlich recht angenehm. Trotzdem hatte Anne das Gefühl, dass »etwas fehlte«. Sie wollte sich allerdings nicht eingestehen, dass es daran lag, dass Gilbert nicht da war. Aber wenn sie nach der Kirche und D.V.V.-Treffen allein nach Hause ging, während Diana und Fred und viele andere Pärchen fröhlich durch die Straßen schlenderten, überkam sie ein merkwürdiges, einsames Gefühl. Gilbert schrieb ihr kein einziges Mal, was sie doch halbwegs erwartet hatte. Sie wusste, dass er dann und wann Diana schrieb, aber sie wollte sie nicht danach fragen; Diana wiederum nahm an, dass Anne mit ihm in Verbindung stand, also erzählte sie von sich aus nichts. Gilberts Mutter, eine muntere, offenherzige, fröhliche, aber nicht besonders taktvolle Dame, hatte die scheußliche Angewohnheit, Anne jedes Mal vor anderen Leuten mit peinlich deutlicher Stimme zu fragen, ob sie in letzter Zeit denn etwas von Gilbert gehört hätte.
Anne wurde jedes Mal rot und konnte nur murmeln: »ln letzter Zeit nicht.« Darin sahen alle, Mrs Blythe eingeschlossen, nur ein kindisches Getue.
Davon aber abgesehen, genoss Anne den Sommer. Im Juni kam Priscilla sie besuchen. Nachdem sie wieder abgereist war, kamen im Juli und August Mr und Mrs Irving, Paul und Charlotta die Vierte.
»Miss Lavendar« hatte sich kaum verändert, sie war höchstens noch lieber und hübscher. Paul hatte sie sehr gern, es war die reinste Wonne, wie gut die beiden sich verstanden.
Paul war mittlerweile dreizehn Jahre alt und ziemlich groß für sein Alter. Er war ein hübscher Junge und seine Phantasie war wie ein Prisma, in dem jeder einfallende Strahl in Regenbogenfarben zerlegt wird. Anne und er unternahmen herrliche Streifzüge durch Wälder und Felder und ans Meer. Sie waren eben »verwandte Seelen«.
Charlotta die Vierte war zu einer jungen Dame herangewachsen.
Sie trug ihr Haar jetzt
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