Anne in Kingsport
Gables
Schatten vom Feuer tanzten an den Wänden der Küche von Green Gables; es war kühl an diesem Frühlingsabend. Marilla saß am Fenster - aber nur rein körperlich, in Gedanken wandelte sie mit jung gewordenen Füßen die alten Wege entlang. So hatte Marilla in letzter Zeit viele Stunden zugebracht, wenn sie eigentlich für die Zwillinge hätte stricken sollen.
»Ich glaube, ich werde alt.«
Marilla hatte sich in den vergangenen neun Jahren nur wenig verändert, außer dass sie etwas dünner und steifer geworden war; ihr Haar, das noch immer mit zwei Haarnadeln - waren auch sie noch dieselben? - zu einem festen Knoten gesteckt war, war etwas grauer geworden. Nur ihre Gesichtszüge hatten sich stark verändert. Die Züge um den Mund, die Sinn für Humor verrieten, waren feiner geworden; ihre Augen waren sanfter und milder und sie lächelte öfter.
Marilla ließ ihr Leben Revue passieren, ihre schwere, aber nicht unglückliche Kindheit, die geheimen Träume und die enttäuschten Hoffnungen ihrer Mädchenzeit, die langen, düsteren, kargen, monotonen Jahre in der Lebensmitte. Und dann Anns Ankunft - das lebendige, ungestüme Kind mit all seiner Liebenswürdigkeit und Phantasie, das Farbe, Wärme und Glanz in ihr Leben gebracht hatte. Marilla spürte, dass sie von ihren sechzig Jahren nur die neun Jahre, seit Anne da war, wirklich gelebt hatte. Und morgen würde Anne wieder zu Hause sein.
Die Küchentür ging auf. Marilla sah hoch und hatte eigentlich mit Mrs Lynde gerechnet. Da stand Anne vor ihr, groß und mit strahlenden Augen und in den Händen Heide und Veilchen.
»Anne Shirleyl«, rief Marilla. Einmal in ihrem Leben war sie so überrascht, dass sie aus sich herausging. Sie umarmte Anne und drückte sie mitsamt den Blumen fest an sich, dass sie sie fast zerquetscht hätte, und gab ihr einen Kuss. »Ich habe erst morgen Abend mit dir gerechnet. Wie bist du von Carmody hierher gekommen?«
»Zu Fuß, liebste Marilla. Mein Koffer wird morgen gebracht. Ich hatte Heimweh und bin einen Tag früher gefahren. Es war ein wunderschöner Spaziergang in dem Mai-Dämmerlicht. Bei den Feldern habe ich angehalten. Die Heide habe ich bei den Feldern gepflückt und die Veilchen im Veilchental. Riech mal, Marilla!«
Gehorsam roch Marilla daran, aber Anne selbst interessierte sie mehr als Veilchenduft.
»Setz dich, Kind. Du bist sicher ganz erschöpft. Ich mache dir etwas zum Abendessen.«
»Es hat einen phantastischen Mondaufgang gegeben, Marilla, und den ganzen Weg von Carmody über hat mich das Quaken der Frösche begleitet! Ich höre es so gern. Es gehört zu meinen schönsten Erinnerungen. Es erinnert mich immer an den Tag, an dem ich herkam. Weißt du noch, Marilla?«
»Aber ja«, sagte Marilla mit Nachdruck. »Das werde ich nie vergessen.«
»Damals haben die Frösche ein wahres Froschkonzert abgehalten. Abends habe ich immer vom Fenster aus gelauscht. Es ist schön, wieder zu Hause zu sein! Am Redmond war es prima und in Bolingbroke reizend - aber Green Gables, das ist zu Hause.«
»Soweit ich weiß, kommt Gilbert den Sommer ja gar nicht nach Hause«, sage Marilla.
»Nein.« Etwas in Annes Tonfall ließ Marilla sie scharf ansehen, aber Anne tat, als wäre sie vollauf damit beschäftigt, die Veilchen in die Vase zu stellen. »Schau, sind sie nicht schön?«, fuhr sie schnell fort.
»Hat Gilbert bei den Prüfungen gut abgeschnitten?«, fragte Marilla weiter.
»Bestens, als Bester von allen. Wo stecken eigentlich die Zwillinge und Mrs Lynde?«
»Rachel und Dora sind drüben bei Mr Harrison. Davy ist bei den Boulters. Ich glaube, da kommt er.«
Davy kam hereingestürmt, sah Anne, blieb stehen und stürzte sich dann mit einem Freudenschrei auf sie.
»O Anne, schön, dass du wieder da bist! Weißt du was, seit Herbst bin ich fünf Zentimeter gewachsen. Mrs Lynde hat mich heute mit ihrem Maßband gemessen, und guck mal, Anne, mein Zahn hier vorne. Er ist futsch. Mrs Lynde hat ein Ende von ‘nem Bindfaden am Zahn festgebunden und das andere an der Tür und dann hat sie die Tür zugemacht. Ich hab den Zahn für zwei Cents an Milty verkauft. Milty sammelt nämlich Zähne.«
»Was um alles auf der Welt will er mit Zähnen!«, fragte Marilla.
»Braucht er für seinen Halsschmuck als Indianerhäuptling«, erklärte Davy und kletterte auf Annes Schoß. »Fünfzehn hat er schon. Alle haben ihm ihre Zähne versprochen, also hat’s für die ändern gar keinen Zweck, dass sie auch anfangen zu sammeln. Das sag ich
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