Anne in Kingsport
Gilbert die Enttäuschung überwunden hätte. Sie hatte befürchtet, dass sie ihn tiefverletzt hatte und dass er lange brauchen würde, bis die Wunde verheilt war. Jetzt stellte sie fest, dass sie sich keine Gedanken hätte machen brauchen. Gilbert genoss das Leben in vollen Zügen und steckte voller Elan und Begeisterung. Für ihn ging es darum, sich nicht der Verzweiflung hinzugeben, weil Anne in ihrer offenen Art ihn abgewiesen hatte. Als sie hörte, wie Gilbert und Phil sich munter unterhielten, fragte Anne sich, ob sie sich diesen Ausdruck in seinen Augen vielleicht nur eingebildet hatte, damals, als sie ihm die Abfuhr erteilt hatte.
Es gab genügend, die liebend gern Gilberts Platz eingenommen hätten. Aber Anne wies sie alle ab. Wenn der Märchenprinz nicht kam - einen schlechten Ersatz wollte sie auch nicht. So redete sie sich hartnäckig weiter ein, als sie an dem grauen Tag durch den Park spazierte.
Plötzlich wurde Tante Jamesinas Wetterprognose wahr. Es fing plätschernd und prasselnd an zu regnen. Anne spannte den Schirm auf und rannte den Hang hinunter. Als sie in die Hafenstraße einbog, fegte eine Bö darüber hinweg. Der Schirm verbog sich. Anne hielt ihn verzweifelt fest. Und dann -dann hörte sie dicht neben sich eine Stimme. »Entschuldigung - darf ich dir meinen Schirm anbieten?« Anne sah auf. Groß, stattlich und gut aussehend - dunkle, melancholische, unergründliche Augen - eine weiche, wohlklingende, sympathische Stimme - ja, vor ihr stand wirklich und wahrhaftig der Märchenprinz. Ihr Ideal!
»Danke«, sagte sie verwirrt.
»Wir rennen am besten hinüber in den kleinen Pavillon da drüben«, schlug der Fremde vor. »Dort können wir den Regenschauer abwarten. Es sieht nicht so aus, als würde der Regen lange anhalten.«
Das waren ganz gewöhnliche Sätze, aber dieser Klang! Und das Lächeln! Anne fühlte ihr Herz pochen.
Sie rannten zum Pavillon und kamen völlig außer Atem dort an. Anne hielt lachend ihren verbogenen Schirm in der Hand. Ihre Wangen glühten, sie schaute mit großen funkelnden Augen. Ihr Begleiter betrachtete sie bewundernd. Sie spürte, wie sie unter seinen Blicken rot wurde. Wer mochte er sein? Nanu, da steckten ja die weiß-roten Redmond-Farben an seinem Mantelrevers. Sie hatte gemeint, dass sie zumindest vom Sehen alle Studenten am Redmond kannte.
»Wir sind alle Kommilitonen«, sagte er und sah mit einem Lächeln auf Annes Redmond-Farben. »Genug des Geplänkels. Ich heiße Royal Gardner. Und du bist doch Anne Shirley, nicht wahr?«
»Ja, aber dich kann ich nicht unterbringen«, sagte Anne offen. »Also, wo muss ich dich hinstecken?«
»Noch fühle ich mich nirgends so richtig zugehörig. Ich habe die ersten beiden Jahre am Redmond schon vor zwei Jahren abgeschlossen. Anschließend war ich in Europa. Jetzt bin ich wieder da und will den Abschluss machen.«
»Ich bin auch im dritten Jahr«, sagte Anne.
»Dann sind wir ja im selben Jahrgang und Kommilitonen. Ich habe mich mit den verlorenen Jahren abgefunden«, sagte er mit einem beredten Blick in seinen ach so wunderschönen Augen.
Fast eine Stunde lang hielt der Regen an. Aber die Zeit verging wie im Fluge. Als die Wolken aufrissen und die Novembersonne zum Vorschein kam und blass auf den Hafen und die Kiefern schien, gingen Anne und ihr Begleiter zusammen nach Hause. Bis sie am Gartentor von Pattys Haus ankamen, hatte er sie längst gefragt, ob er sie besuchen dürfe, und er durfte!
Am Abend wurde ein Päckchen für Miss Shirley abgeben. Es handelte sich um eine Schachtel, die ein Dutzend wunderschöne Rosen enthielt. Phil stürzte sich frech auf die Karte, die herausfiel, las den Namen und die poetischen Worte auf der Rückseite.
»Royal Gardner!«, rief sie aus. »So was, Anne, ich wusste ja gar nicht, dass du Royal Gardner kennst!«
»Ich habe ihn heute Nachmittag im Park kennen gelernt«, erklärte Anne schnell. »Mein Schirm war kaputt, da kam er mit seinem zu Hilfe.«
»Oh!« Phil musterte Anne neugierig. »Und dieser gewöhnliche Vorfall ist der Grund, dass er uns zwölf langstielige Rosen mit dem gefühlsduseligen Gedicht schickt? Und warum wirst du rot? Dein Gesicht verrät dich, Anne!«
»Hör auf mit dem Unsinn. Kennst du ihn eigentlich?«
»Ich kenne seine beiden Schwestern. Ihn kenne ich nur vom Hörensagen. Die Gardners gehören zu den reichsten und nobelsten Familien in Kingsport. Roy ist beneidenswert hübsch und intelligent. Vor zwei Jahren musste er das College abbrechen, weil es
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