Anne Rice - Pandora
Worte zu formulieren, konnte Akasha ein paar stumme Sätze bilden: ›Marius, bringe uns fort aus Ägypten!« Er hielt inne. »Bring uns fort von hier, Marius. Der Älteste will uns vernichten. Beschütze uns, oder wir werden hier zu Grunde gehen.«
Er holte tief Luft; er war nun ruhiger, nicht mehr so zornig, aber sehr erschüttert, und mit meiner zunehmenden vampirischen Hellsicht wusste ich nun mehr über ihn, wie mutig er war, wie fest entschlossen, sich an die Prinzipien zu halten, an die er glaubte, trotz der Magie, die ihn mit Haut und Haaren verschlungen hatte, ehe ihm noch Zeit geblieben war, sie in Zweifel zu ziehen. Er versuchte einfach, trotz allem ein Leben nach edlen Grundsätzen zu führen.
»Mein Schicksal«, fuhr er fort, »war unmittelbar mit dem ihren verknüpft! Hätte ich sie im Stich gelassen, hätte der Älteste sie früher oder später erneut der Sonne ausgesetzt, und ich, der ich das jahrtausendealte Blut nicht be-saß, wäre wie Wachs verbrannt! Ich hätte mein Leben, das sich schon verändert hatte, endgültig verloren. Aber der Älteste verlangte nicht von mir, neue Priester einzu-setzen. Akasha verlangte nicht, dass ich eine neue Religion gründete! Sie sprach weder von Altären noch von Kult. Darum hatte mich nur dieser ausgebrannte Gott in dem nordischen Wald inmitten der Barbaren gebeten, als er mich nach Ägypten in das Mutterland aller Geheimnisse schickte.«
»Wie lange hütest du sie schon?«
»Über fünfzehn Jahre. Ich verliere langsam die Über-sicht. Sie rühren sich nicht und sprechen nicht. Die Ver-letzten, die mit den schweren Verbrennungen, die erst in Jahrhunderten heilen, erfahren, dass ich hier bin. Sie kommen. Und ich versuche sie auszulöschen, ehe ihr Geist noch ein bestätigendes Signal an andere abgeben kann. Sie führt ihre verbrannten Abkömmlinge nicht hierher, so wie sie es mit mir gemacht hat! Nur wenn ich von einem überlistet oder überwältigt werde, bewegt sie sich, so wie du es erlebt hast, und zerschmettert den Bluttrinker! Doch dich, Pandora, hat sie gerufen, sie hat ihre Fühler nach dir ausgestreckt. Und nun wissen wir auch, zu welchem Zweck. Ich war grausam dir gegenüber.
Taktlos.«
Er sah mich an. Seine Stimme wurde zärtlich. »Sag, Pandora«, bat er, »in deiner Vision, waren wir da jung oder alt, als wir heirateten? Warst du das fünfzehnjährige Mädchen, das ich vielleicht zu früh begehrte, oder warst du die reife, voll erblühte Frau, die du nun bist? Und waren unsere Familien glücklich? Sahen wir gut aus?«
Die Aufrichtigkeit seiner Worte hüllte mich warm ein.
Ebenso die Unsicherheit und die Bitte, die sich darin verbargen.
»Wir waren, wie wir jetzt sind«, sagte ich und erwiderte sein Lächeln verhalten. »Du warst ein für immer in der Blüte seines Lebens stehender Mann. Und ich? Ich war wie jetzt.«
»Glaub mir«, sagte er zärtlich, »ich hätte heute Nacht nicht so schroff über all dies gesprochen, aber du hast jetzt noch so viele Nächte vor dir. Nichts kann dich mehr töten, außer Sonne oder Feuer. Kein Verfall kann dir mehr etwas anhaben. Du kannst noch unzählige neue Erfahrungen machen.«
»Und die Ekstase, die ich empfand, als ich von Akasha trank, was ist damit?«, fragte ich. »Wie verhält es sich mit ihren eigenen Ursprüngen, ihrem eigenen Leiden? Sieht sie sich nicht in gewisser Weise mit dem Heiligen verbunden?«
»Was ist heilig?«, fragte er und zuckte die Achseln.
»Sag’s mir. Was heißt heilig? Hast du in den Träumen, die von ihr kamen, Heiligkeit erlebt?«
Ich senkte den Kopf. Ich wusste keine Antwort.
»Das Römische Reich ist bestimmt nicht heilig«, sagte er. »Und auch nicht der Tempel des Kaisers Augustus.
Und sicher nicht die Verehrung der Kybele oder der Kult jener Feueranbeter in Persien. Ist denn der Name Isis noch heilig, oder war er es je? Der Erste und Einzige, der mich in dieser Sache unterwiesen hat, nämlich jener ägyptische Älteste, behauptete, dass Akasha diese Sagen von Isis und Osiris selbst erfunden habe, weil es ihren Zielen diente und um ihrem Kult Poesie zu verleihen.
Ich selbst glaube eher, dass sie sich bestehende alte Sagen zu Nutze machte. Der Dämon in den beiden wächst mit jedem neuen Bluttrinker, der geschaffen wird.
Er muss es.«
»Aber ohne Zweck und Ziel?«
»Vielleicht, damit er sein Wissen vermehrt?«, sagte er.
»Damit er durch jeden, der sein Blut in sich trägt, mehr fühlen, mehr sehen kann? Vielleicht ist dieses Geschöpf so beschaffen, und jeder
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