Anne Rice - Pandora
Antiochia.
Ratten flitzten die Straßen und Abflüsse hinauf und hinunter. Der Fluss sandte seinen eigenen Klang aus, und von den vor Anker liegenden Schiffen, vom kleinsten Kräuseln des Wassers hallte es hohl wider.
Das Forum, im Widerschein seiner ständig brennenden Lichter, fing den Mond in seiner Mitte, als wäre es eine große Fallgrube, von Menschen geschaffen, damit die unerbittlichen himmlischen Mächte es sehen und segnen konnten.
Als ich zu meinem eigenen Haus kam, entdeckte ich, dass ich ganz leicht auf seinen Giebel steigen konnte.
Und so saß ich dann auf dem schindelgedeckten Dach ganz entspannt und sicher und frei. Ich schaute hinunter in den Hof und das Peristyl, wo ich – in jenen drei einsa-men Nächten – eigentlich die Wahrheiten erfahren hatte, die mich auf Akashas Blut vorbereiteten.
In Ruhe und ohne Kummer dachte ich noch einmal darüber nach – als schuldete ich der Frau, die ich einst war, der Eingeweihten, der Frau, die Zuflucht im Tempel gesucht hatte, dieses abermalige Nachdenken. Marius hatte Recht. Die Königin und der König waren von einem Dämon besessen, der sich durch das Blut verbreitete und sich davon ernährte und wuchs, wie ich das jetzt auch in mir fühlen konnte.
Das königliche Paar hatte die Gerechtigkeit nicht erfunden! Diese Königin, die den kleinen Pharao zerbrochen hatte, konnte weder Recht noch Gerechtigkeit ersonnen haben!
Und die römischen Gerichte, die sich mit jeder Entscheidung so schwer taten, alle Seiten bedachten und magische oder religiöse Kunstgriffe ablehnten, sie be-mühten sich selbst in diesen entsetzlichen Zeiten um Gerechtigkeit. Es war ein System, das nicht auf einer Offenbarung der Götter, sondern auf Vernunft beruhte.
Aber ich konnte dennoch den Augenblick der Trunken-heit nicht bedauern, als ich ihr Blut getrunken und an sie geglaubt hatte, während Blumen auf uns herabregneten.
Ich konnte nicht bedauern, dass jeder menschliche Geist sich einer solchen totalen Transzendenz öffnen konnte.
Sie war meine Mutter, meine Königin, meine Göttin, mein Ein und Alles. Es war mir bewusst geworden, wie es von uns erwartet wurde, wenn wir im Tempel der Isis den Trank zu uns nahmen, wenn wir sangen und uns zu ekstatischen Hymnen wiegten. In ihren Armen war es mir bewusst geworden. Ich hatte es auch in Marius’ Armen erfahren, in einem weniger gefährlichen Ausmaß. Und plötzlich hatte ich nur noch den Wunsch, bei ihm zu sein.
Wie grausam mir nun ihr Kult erschien. Unvollkommen und unwissend, wie sie war, zu solcher Macht erhoben zu sein! Und wie entlarvend plötzlich, dass im Kern des Geheimnisses solche erniedrigenden Erklärungen lauerten. Vergossenes Blut auf ihrem goldenen Gewand!
Wie schon zuvor, als ich mich in dem Tempel auf die Tröstungen einer Basaltstatue eingelassen hatte, dachte ich auch jetzt wieder: Alle Bilder, alle bedeutsamen Ein-blicke tun nichts anderes, als dich die tieferen Dinge zu lehren.
Ich, und nur ich, muss aus meinem neuen Leben eine heldenhafte Geschichte machen.
Ich freute mich für Marius, dass er einen solchen Trost in der Vernunft fand. Doch die Vernunft war nur etwas Geschaffenes, das der Welt in gutem Glauben aufge-zwungen wurde, und die Sterne versprechen niemandem etwas.
In jenen dunklen Nächten, in denen ich mich in dem Haus in Antiochia verkrochen und um meinen Vater getrauert hatte, hatte ich tiefer geblickt. Ich hatte gefunden, dass im innersten Kern der Schöpfung durchaus etwas liegen konnte, das ebenso unkontrollierbar und unverständlich ist wie ein brodelnder Vulkan.
Seine Lava würde Bäume und Dichter gleichermaßen vernichten.
So nimm diese Gabe hin, Pandora, sagte ich zu mir.
Geh nach Hause, dankbar dafür, wieder jemandem an-getraut zu sein. Denn du hast nie zuvor eine bessere Partie gemacht und einer aufregenderen Zukunft entge-gengeblickt.
Als ich – sehr plötzlich – zurückkehrte, voll neuer Kenntnisse – zum Beispiel, wie man schnell über Dach-firste kommen konnte, fast ohne sie zu berühren, oder über Mauern –, als ich also zurückkehrte, fand ich Marius, wie ich ihn verlassen hatte, jedoch viel betrübter. Er saß im Garten, wie Akasha ihn mir in meiner Vision gezeigt hatte.
Es musste wohl ein Platz sein, den er sehr liebte, eine Bank auf der Rückseite des Hauses, mit Blick auf ein kleines Dickicht und einen natürlichen Bach, der spru-delnd über Felsbrocken stürzte und dann durch das hohe Gras dahineilte.
Marius stand sofort auf. Ich nahm ihn in die
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