Anne Rice - Pandora
gewollt hättest. Ich wusste es nicht, bis ich dir von seiner Schuld erzählen würde. Dann erst würde ich erkennen, wie stark dein Wunsch war, dass es geschähe.
Natürlich hatte ich keine Ahnung, wie gewandt du inzwischen geworden warst, dass dein Scharfsinn und deine Sprachbegabung, die ich an dir so geliebt hatte, als du noch ein Mädchen warst, immer noch existierten.
Plötzlich standest du in dem Tempel, dachtest drei Mal schneller als alle anderen anwesenden Sterblichen, wogst jeden Aspekt der Situation genau ab und warst allen eine Nasenlänge voraus. Und dann folgte diese sensationelle Konfrontation mit deinem Bruder. Du fingst ihn in deinem höchst raffiniert ausgelegten Netz von Wahrheiten und konntest ihn so ins Jenseits befördern, ohne ihn selbst auch nur zu berühren. Stattdessen mach-test du drei Augenzeugen von der Armee zu Mittätern an seinem Tod.«
Er brach ab, sagte dann aber: »Vor vielen Jahren in Rom bin ich dir einmal gefolgt. Du warst sechzehn. Das war zum Zeitpunkt deiner ersten Heirat. Dein Vater nahm mich beiseite; er war sehr freundlich. ›Marius, du wirst nie etwas anderes als ein herumziehender Historiker sein‹, sagte er. Damals traute ich mich nicht, ihm ehrlich zu sagen, wie ich über deinen Ehemann dachte.
Und nun kommst du nach Antiochia, und ich denke –
egozentrisch, wie ich bin, wirst du natürlich einfügen –, wenn je eine Frau speziell für mich geschaffen wurde, dann ist es diese Frau. Und als ich dich heute Morgen verließ, wusste ich, ich musste die Mutter und den Vater irgendwie aus Antiochia herausschaffen, musste sie fort-schaffen, doch andererseits musste auch dieser Bluttrinker vernichtet werden, und dann, erst dann wärst du in Sicherheit und ich könnte dich allein lassen.«
»Du meinst verlassen«, sagte ich.
»Hältst du mir das vor?«, fragte er.
Die Frage traf mich unvorbereitet. Ich schaute ihn einen scheinbar endlosen Moment an, ließ es geschehen, dass meine Augen seine Schönheit in sich aufsogen, und spürte mit unerträglicher Schärfe seine Traurigkeit und Verzweiflung. Ach, wie sehr er mich brauchte! Wie sehr er nicht einfach eine sterbliche Seele brauchte, der er sich anvertrauen konnte, sondern mich.
»Du wolltest mich wirklich beschützen, war es nicht so?«, fragte ich. »Und deine Erklärung ist in allen Punk-ten so rational; sie hat die Eleganz einer mathematischen Gleichung. Man braucht keine Reinkarnation, nicht das Schicksal und auch keine Wunder für das, was geschehen ist.«
»Das glaube ich«, sagte er scharf. Seine Züge wurden ausdruckslos, dann unnachgiebig. »Ich käme nie auf die Idee, dir etwas anderes als die Wahrheit anzubieten. Bist du eine Frau, der man nach dem Mund reden muss?«
»Nur solltest du dich nicht fanatisch der Vernunft ver-schreiben«, sagte ich.
Diese Worte erschreckten und beleidigten ihn.
»In einer Welt, die voll schrecklicher Widersprüche ist, solltest du dich nicht zu verzweifelt an die Vernunft klammern!«
Das ließ ihn verstummen.
»Wenn du der Vernunft zu sehr vertraust«, sagte ich,
»dann könnte sie dich irgendwann im Stich lassen, und wenn es so weit kommt, müsstest du dein Heil vielleicht im Wahnsinn suchen.«
»Was, in aller Welt, meinst du?«
»Du bist doch geradezu aus Vernunft und Logik zusammengesetzt. Es ist offensichtlich der einzige Weg für dich, zu ertragen, was dir widerfahren ist, nämlich dass du ein Bluttrinker geworden bist und noch dazu, wie man sieht, der Hüter dieser unzeitgemäßen, vergessenen Götter.«
»Sie sind keine Götter!« Er wurde ärgerlich. »Vor Tausenden von Jahren sind sie so geworden durch eine unerklärliche Verschmelzung von Geist und Fleisch, die sie unsterblich machte. Sie finden ihre Zuflucht im totalen Vergessen. In deiner Liebenswürdigkeit beschreibst du es als einen Garten, in dem die Mutter Blumen und Zweige sammelt, um dir einen Kranz zu flechten – einen Fallstrick, hast du gesagt. Doch das ist zarte Mädchen-poesie. Uns ist nicht bekannt, dass sie so viele Worte aneinander reihen.«
»Ich bin kein zartes Mädchen«, sagte ich. »Poesie ist für jedermann da. Rede mit mir!«, verlangte ich. »Und lass diese Worte ›Mädchen‹ und ›Frau‹ weg. Hab nicht solche Angst vor mir.«
»Ich habe keine Angst vor dir!«, sagte er wütend.
»Hast du doch! Selbst jetzt, während dieses neue Blut noch frisch durch meine Adern rast, mich verschlingt und mich umwandelt, klammere ich mich nicht an Vernunft oder Aberglauben um meiner
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