Anne Rice - Pandora
du oder ich oder die Königin und der König tun können, um sich in den Gang der menschlichen Ereignisse einzuschalten. Ich glaube, dass die Menschen sich mehr Mühe geben müssen. Ich versuche mit jedem Opfer, das ich aussauge, tiefere Einsicht in das Böse zu gewinnen.
Jede Religion, die fanatische Ansprüche und Forderungen auf der Grundlage eines göttlichen Willens erhebt, erschreckt mich.«
»Du bist ein wahrer Schüler des Augustus«, sagte ich.
»Ich bin deiner Meinung, aber es ist doch komisch, diese verrückten Gnostiker zu lesen. Diesen Marcion und Valentinus.«
»Für dich vielleicht. Ich sehe überall Gefahren. Diese neue Christensekte, sie verbreitet sich nicht nur, sie ver-
ändert sich mit jedem Ort, an dem sie sich einnistet; sie ist wie ein Tier, das die örtliche Flora und Fauna in sich hineinschlingt und durch diese Nahrung eine besondere Macht erlangt.«
Ich stritt mich nicht mit ihm.
Am Ende des zweiten Jahrhunderts war Antiochia eine vom Christentum beherrschte Stadt. Und wenn ich die Werke neuerer Bischöfe und Philosophen las, hatte ich den Eindruck, als ob Schlimmeres als das Christentum über uns kommen könnte.
Aber du musst dir vor Augen halten, David, dass Antiochia keineswegs unter einer Wolke des Verfalls dahin-siechte; es lag nichts in der Luft, was auf das Ende des Kaiserreichs hindeutete. Wenn etwas in der Luft lag, dann war es geschäftige Energie. Der Handel gibt einem dieses Gefühl, diesen falschen Eindruck von Wachstum und Kreativität, wo vielleicht nichts dergleichen ist. Es findet ein Austausch, aber nicht unbedingt eine Verbes-serung statt.
Dann brach eine dunkle Zeit für uns an. Zwei schwer wiegende Ereignisse kamen zusammen, die Marius nie-derdrückten und seinen Mut auf eine harte Probe stellten.
Antiochia war interessanter denn je. Von der Mutter und dem Vater ging keine Beeinträchtigung aus; sie hatten sich seit der Nacht meiner Ankunft nie wieder gerührt.
Ich will dir das erste Unglück schildern, denn für mich war es nicht so schwer zu ertragen, und ich hatte nur Mitleid mit Marius.
Ich sagte dir ja schon, dass die Frage, wer Kaiser war, nur noch ein Witz war. Aber zu einer Lachnummer wurde sie erst richtig mit den Ereignissen des frühen dritten Jahrhunderts.
Kaiser war zu diesem Zeitpunkt Caracalla, ein regelrechter Mörder. Auf einer Pilgerreise nach Alexandria zu den Überresten Alexanders des Großen hatte er – aus unerklärlichen Gründen – Tausende junger alexandrini-scher Männer zusammengetrieben und niedergemetzelt.
Nie hatte diese Stadt ein solches Massaker erlebt.
Marius war außer sich. Die ganze Welt war außer sich.
Marius sprach davon, Antiochia zu verlassen, dem Ruin des Kaiserreichs weit aus dem Weg zu gehen. Ich stimmte ihm fast schon zu.
Dann marschierte dieser widerliche Caracalla in unsere Richtung, in der Absicht, die Parther im Norden und Osten zu bekriegen. Nichts Ungewöhnliches für Antiochia!
Caracallas Mutter – du brauchst dir den Namen nicht zu merken – Julia Domna verlegte ihren Wohnsitz nach Antiochia. Sie starb an Brustkrebs. Übrigens hatte diese Frau mit Caracalla zusammen für die Ermordung ihres zweiten Sohnes, Geta, gesorgt, denn die Brüder hatten sich die Regentschaft geteilt und standen kurz vor einem Bürgerkrieg.
Ich will fortfahren, und auch die folgenden Namen musst du dir nicht merken. Truppen wurden zusammen-gezogen, um diesen Krieg im Osten gegen die beiden Könige Vologases V. und Artabanus V. zu führen. Caracalla griff an, erzielte einen Sieg und kehrte im Triumph zurück. Dann, nur wenige Meilen vor Antiochia, wurde er von seinen eigenen Soldaten ermordet, als er sich gerade erleichtern wollte!
All dies versetzte Marius in einen Zustand der Hoff-nungslosigkeit. Stundenlang saß er im Heiligtum und starrte die Mutter und den Vater an. Ich hatte das Gefühl, dass ich seine Gedanken kannte, nämlich, dass wir uns und sie opfern sollten; doch diese Vorstellung konnte ich nicht ertragen. Ich wollte mein Leben nicht verlieren. Ich wollte Marius nicht verlieren.
Ich machte mir nicht allzu viel aus dem Schicksal Roms. Das Leben breitete sich immer noch vor mir aus und versprach unzählige Wunder.
Zurück zu der Komödie: Die Armee wählte prompt einen neuen Kaiser, einen Mann aus den Provinzen namens Macrinus; er war Maure und trug einen Ring im Ohr.
Er geriet sofort mit der Mutter des toten Kaisers, Julia Domna, aneinander, weil er ihr nicht erlauben wollte, Antiochia zu verlassen. Bald
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