Anne Rice - Pandora
seinen Ärger gezeigt hatten. Ich sagte dir ja schon, dass er Lestat sehr stark ähnelt. Nur hat er einen stärkeren Körperbau, und die Kinnpartie ist etwas kantiger, weil er älter war, als ihm die Dunkle Gabe verliehen wurde. Doch die unerwünschten Fältchen um seine Augen verschwanden langsam.
Manchmal sprachen wir aus Furcht vor neuen Streitereien ganze Nächte lang überhaupt nicht. Wir bezeugten uns jedoch ständig körperlich unsere Zuneigung – Umarmungen, Küsse, manchmal einfach nur ein schweigender Händedruck.
Aber wir wussten, dass wir schon weit über die übliche menschliche Lebensspanne hinaus zusammen waren.
Du brauchst von dieser bemerkenswerten Epoche keinen detaillierten Bericht. Dafür ist sie zu gut bekannt. Ich will nur der Erinnerung etwas nachhelfen und die Veränderungen, die das ganze Reich erfassten, aus meiner Perspektive schildern.
Antiochia erwies sich als eine aufstrebende Stadt, die unzerstörbar war. Die Kaiser begannen sie zu bevorzu-gen und besuchten sie häufig. Die orientalischen Religionen nahmen mit ihren Tempeln immer mehr Raum ein.
Und Christen aller Art strömten nach Antiochia.
Tatsächlich setzten sich die Christen von Antiochia aus den faszinierendsten Menschen zusammen, die alle miteinander Streitgespräche führten.
Rom führte Krieg gegen die Juden und zerstörte Jeru-salem vollständig und damit auch den heiligen jüdischen Tempel. Viele brillante jüdische Denker kamen nach Antiochia und Alexandria.
Zwei oder drei Mal zogen römische Legionen an uns vorbei nordwärts, nach Parthien; einmal hatten wir sogar eine eigene kleine Rebellion, aber die Stadt Antiochia wurde immer wieder von den Römern gerettet. So schloss der Markt eben für einen Tag! Dann ging der Handel weiter, und Antiochia war das Bett, in dem sich die lastenschweren Karawanen mit den voll beladenen Schiffen vermählten.
Neue Gedichte gab es nur wenige. Satire! Satire schien die einzige ungefährliche und ehrliche Ausdrucksform des römischen Geistes zu sein, und so erhielten wir die urkomische Geschichte Der Goldene Esel von Apuleius, die sich über jede Religion lustig zu machen schien. Mar-tial hingegen zeigte nur Bitternis. Und diese Briefe des Plinius, die ich erhielt, sprachen ein strenges Urteil über das moralische Chaos Roms.
Ich begann, mich als Vampir nur noch von Soldaten zu nähren. Ich mochte sie, ihr Aussehen, ihre Kraft. Ich tat das so lange und so gründlich, dass ich in meiner Unbe-kümmertheit bei ihnen zu einer Legende wurde. »Die griechische Dame Tod« nannten sie mich auf Grund meiner Gewänder, die ihnen archaisch vorkamen. Ich schlug wahllos zu in den dunklen Gassen. Sie hatten nie eine Chance, mich einzukreisen oder aufzuhalten, so groß waren meine Geschicklichkeit, meine Kraft und mein Durst.
Doch bei ihren Todeskämpfen erlebte ich manches: den Ausbruch einer offenen Feldschlacht unterwegs auf einem Marsch, einen Zweikampf an einem steilen Ge-birgshang. Sanft zog ich sie hinab in ihren Tod, füllte mich bis zum Überfluss mit ihrem Blut, und manchmal sah ich wie durch einen Schleier die Seelen derer, die sie selbst getötet hatten.
Als ich Marius davon erzählte, sagte er, das sei genau der mystische Unsinn, den er von mir erwarte.
Ich vertiefte das Thema nicht weiter.
Er selbst beobachtete die Entwicklungen in Rom mit großem Interesse. Mir erschienen sie höchstens verwun-derlich.
Er brütete über den Geschichtswerken von Cassius, Plutarch und Tacitus, und als er von den endlosen Scharmützeln am Rhein und von dem nördlichen Vorstoß in Britannien hörte, ballte er die Fäuste ebenso wie bei der Nachricht vom Bau des Hadrianwalls, der die Schot-ten, die sich genau wie die Germanen einfach nicht ergeben wollten, für immer fern halten sollte.
»Es geht nicht mehr darum, ein Reich zu befrieden und zu erhalten«, sagte er, »nicht mehr um Bewahrung eines Lebensstils! Es geht nur noch um Krieg und Handel!«
Dem konnte ich nicht widersprechen.
Es war in Wirklichkeit sogar noch schlimmer, als ihm bewusst war. Wenn er so oft wie ich hinausgegangen wäre, um den Philosophen zuzuhören, wäre er entsetzt gewesen.
Überall tauchten Magier auf, die behaupteten, sie könnten fliegen oder hätten Visionen oder vermöchten durch Handauflegen zu heilen! Sie lieferten sich Kämpfe mit den Christen und den Juden. Ich glaube aber nicht, dass die römische Armee ihnen irgendwelche Beachtung schenkte.
Die medizinische Wissenschaft, wie ich sie während meines Lebens
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