Anne Rice - Pandora
als Sterbliche gekannt hatte, wurde nun von einer aus dem Orient stammenden Flut geheimnis-umwitterter Beschwörungen, Amulette, Rituale und kleiner Figürchen, die der Kranke umklammert halten musste, überschwemmt.
Mehr als die Hälfte der Senatsmitglieder waren keine geborenen Römer. Das bedeutete für uns, dass dieses Rom nicht mehr unser Rom war. Und der Titel Kaiser war zu einem Witz geworden. Es gab so viele Morde, Verschwörungen, Streitereien, falsche Kaiser und Palastre-volutionen, dass bald klar war, dass eigentlich die Armee regierte. Die Armee wählte den Kaiser. Die Armee unterstützte ihn.
Die Christen hatten sich in verschiedene rivalisierende Gruppen aufgeteilt. Eigentlich war es erstaunlich, dass diese Religion nicht durch die internen Dispute ausbrann-te. Sie gewann durch die Teilung an Stärke. Verschie-dentliche grausame Verfolgungen – die Gläubigen wurden hingerichtet, weil sie nicht an römischen Götteral-tären beteten – schienen die Sympathie für den neuen Kult auf Seiten der Bevölkerung nur zu erhöhen.
Und die neue Glaubensgemeinschaft war wild darauf, jedes Prinzip im Zusammenhang mit dem Judentum, Gott und Jesus zu diskutieren.
Mit dieser Religion war etwas Erstaunliches vor sich gegangen. Da sich ihre Botschaft durch schnelle Schiffe, bequeme Straßen und gut erhaltene Handelsrouten mit großer Geschwindigkeit in alle Himmelsrichtungen verbreitete, fand sie sich plötzlich in einer schwierigen Situation. Das Ende der Welt, wie Jesus und Paulus es vorausgesagt hatten, war nicht gekommen.
Und niemand, der Jesus je gesehen oder selbst gekannt hatte, lebte mehr. Selbst die, die Paulus gekannt hatten, waren alle schon tot.
Christliche Philosophen tauchten auf, machten Anlei-hen und trafen ihre Auswahl bei den Theorien der alten Griechen und alten jüdischen Traditionen. Justinius von Athen schrieb, dass Christus der Logos sei; man konnte Atheist sein und trotzdem durch Christus gerettet werden, wenn man die Vernunft hochhielt.
Das musste ich unbedingt Marius erzählen!
Ich war mir sicher, das würde ihn in Schwung bringen, und die Nacht war langweilig genug; aber seine ganze Antwort bestand nur in weiteren seltsamen Auslassungen über die Gnostiker.
»Da trat heute auf dem Forum ein Mann namens Sa-turnius in Erscheinung«, sagte er. »Vielleicht hast du ja von ihm gehört. Er predigt eine verrückte Variante dieses Christenglaubens, den du so amüsant findest. Darin ist der Gott der Juden eigentlich der Teufel und Jesus der neue Gott. Das war übrigens nicht sein erster Auftritt. Er und seine Anhänger sind dank des hiesigen Bischofs Ignatius auf dem Weg nach Alexandria.«
»Es gibt hier schon Bücher über diese Ideen«, antwortete ich. »Sie sind aus Alexandria gekommen. Ich kann sie nicht durchschauen. Aber du vielleicht. Es geht um ein weibliches Prinzip der Weisheit – Sophia –, das noch vor der Schöpfung war. Juden und Christen möchten diesen Weisheitsbegriff gleichermaßen in ihren Glauben integrieren. Das erinnert mich sehr an unsere geliebte Isis.«
»Deine geliebte Isis!«, sagte er.
»Mir scheint, es gibt Geister, die alles miteinander ver-flechten wollen, jeden Mythos oder doch dessen Quint-essenz, um daraus einen herrlichen Gobelin zu weben.«
»Pandora, du machst mich mal wieder krank«, warnte er mich. »Ich werde dir sagen, was deine Christen tun.
Sie sind dabei, eine straffe Organisation zu bilden. Der Bischof Ignatius wird Nachfolger haben, und im Moment möchten sie verfügen, dass das Zeitalter der individuel-len Offenbarungen beendet ist. Sie wollen alle auf dem Markt befindlichen unsinnigen Schriften aussortieren und einen Kanon aufstellen, an den alle Christen glauben sollen.«
»Ich hätte nie gedacht, dass es so kommen könnte«, sagte ich. »Ich habe damals, als du sie verurteilt hast, viel stärker mit dir übereingestimmt, als dir bewusst war.«
»Sie sind so erfolgreich, weil sie sich von der gefühls-mäßigen Moral entfernen«, erklärte er. »Sie organisieren sich wie Römer. Dieser Bischof Ignatius greift streng durch. Er delegiert Macht! Er besteht auf dem genauen Wortlaut der Manuskripte! Achte mal darauf, wie man die Propheten aus Antiochia vertreibt!«
»Ja, du hast Recht«, stimmte ich zu. »Was meinst du, ist das gut oder schlecht?«
»Ich möchte, dass die Welt besser wird«, sagte er.
»Besser für Männer und Frauen. Besser. Nur eins ist klar: Die alten Bluttrinker sind inzwischen ausgestorben, und es gibt nichts, was
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