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Anne Rice - Pandora

Anne Rice - Pandora

Titel: Anne Rice - Pandora Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Pandora
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ich habe keine Laterne bei mir.«
    »Der Himmel ist voller Sterne, und es ist beinahe Vollmond. Sieh nur! Außerdem kommen noch andere aus dem Tempel hinter uns her.«
    »Tatsächlich?«, fragte er. Er zahlte die Fackelträger aus, und sie rannten zurück, auf den Eingang der Straße zu.
    »Ja. Das ist eine Wache. Und dank der erleuchteten Fenster und der Lichter am Himmel können wir genug sehen, meinst du nicht? Ich bin todmüde.«
    Ich eilte weiter, musste mich aber immer wieder selbst ermahnen, dass Flavius nicht mit mir Schritt halten konnte. Ich begann zu weinen.
    »Du mit deinem großen philosophischen Wissen musst mir was erklären«, sagte ich im Weitergehen, entschlossen, die Tränen zu unterdrücken. »Erklär mir, warum schlechte Menschen so dumm sind. Warum sind viele von ihnen ganz schlicht und einfach dumm?«
    »Herrin, ich denke, es gibt eine ganze Anzahl schlechter Mensehen, die ziemlich intelligent sind«, antwortete er. »Aber ich habe noch bei niemandem, ob gut oder bö-

    se, solche rhetorischen Kunstgriffe erlebt, wie Ihr sie gerade vorgeführt habt.«
    »Ich bin entzückt, dass du weißt, es war einzig und allein das«, sagte ich, »Rhetorik. Und wenn man bedenkt, dass er dieselben Lehrer hatte wie ich, dieselbe Bibliothek, denselben Vater –« Meine Stimme versagte.
    Er legte behutsam einen Arm um meine Schultern, und dieses Mal untersagte ich es ihm nicht. Ich ließ zu, dass er mich stützte. Als Paar konnten wir schneller gehen.
    »Nein«, widersprach ich ihm, »die meisten Bösen sind einfach ausgesprochen dumm, das habe ich im Laufe meines Lebens immer wieder festgestellt. Die wirklich gerissenen Bösewichte sind eher selten. Stümperei verursacht das meiste Elend in der Welt. Und die Unterschätzung der Mitmenschen. Du siehst, was bei Tiberius passiert. Bei Kaiser Tiberius und den Prätorianern. Oder bei diesem verdammten Sejanus. Du kannst die Saat des Misstrauens überall ausbringen, bis du dich in dem überwucherten Feld selbst verirrst.«
    »Wir sind daheim, Herrin«, sagte er.
    »Oh, den Göttern sei Dank, du hast das Haus erkannt.
    Ich hätte nicht mehr sagen können, ob es dies war.«
    Schon blieb er stehen und drehte den Schlüssel im Schloss um. Wie stets in den Seitenstraßen der antiken Städte roch es auch hier überall durchdringend nach Urin. Eine Laterne warf ihr trübes Licht über unser Holz-portal. Der Schein tanzte in dem Wasserstrahl, der aus dem Löwenmaul in den Brunnen fiel.
    Flavius klopfte mehrmals. Es klang so, als ob die Frauen, die die innere Tür öffneten, weinten.
    »Ach, du meine Güte, was denn nun noch?«, fragte ich.
    »Ich bin zu müde. Was es auch ist, kümmere du dich darum.«
    Ich trat ein.

    »Herrin«, jammerte eines der Mädchen. Mir fiel ihr Na-me nicht ein. »Ich habe ihn nicht eingelassen. Ich schwö-
    re, ich habe das Tor nicht aufgemacht. Ich habe doch gar keinen Schlüssel dafür. Wir hatten das Haus, alles hier, für dich vorbereitet!« Sie schluchzte.
    »Von was, um alles in der Welt, redest du?«, fragte ich.
    Doch ich wusste es schon. Ich hatte es aus dem Augenwinkel gesehen. Ich wusste es. Ich drehte mich um und sah einen hoch gewachsenen Römer in meinem neu ausgestatteten Wohnzimmer sitzen. Entspannt, einen Fuß auf dem Knie, saß er in einem vergoldeten Sessel.
    »Es ist in Ordnung, Flavius«, sagte ich, »ich kenne ihn.«
    Und ob ich ihn kannte. Es war Marius. Marius, der gro-
    ße Kelte. Marius, der mich als Kind so bezaubert hatte.
    Marius, den ich beinahe in den Schatten des Tempels erkannt hätte.
    Er stand sofort auf.
    Er kam zu mir an den Rand des Atriums, wo ich im Dunkeln stand. Er flüsterte: »Meine schöne Pandora!«

    7

    Er schreckte davor zurück, mich zu berühren. »Ach, bitte«, sagte ich und machte Anstalten, ihn zu küssen, aber er wich aus. Mehrere Lampen standen im Raum verteilt.
    Er blieb im Schatten.
    »Marius, natürlich, Marius! Und du siehst nicht einen Tag älter aus als damals in meiner Mädchenzeit. Dein Gesicht strahlt, und deine Augen erst, wie schön deine Augen sind! Wenn ich könnte, würde ich sie besingen und die Lyra dazu spielen.«
    Flavius hatte sich zögernd zurückgezogen und die un-glücklichen Mädchen mit sich genommen. Er verhielt sich mucksmäuschenstill.
    »Pandora«, sagte Marius, »ich wollte, ich könnte dich in die Arme schließen, aber es gibt Gründe, die mir das verbieten, du darfst mich auch nicht berühren – nicht et-wa, weil ich es nicht wollte, sondern weil ich ganz anders

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