Anne Rice - Pandora
bin, als du glaubst. Was du siehst, ist nicht die personifi-zierte Jugend; es ist etwas, das so weit entfernt ist von den Verheißungen der Jugend, dass ich selbst gerade erst begonnen habe, die damit verbundenen Seelenqualen zu begreifen.«
Plötzlich wandte er den Blick ab. Er hob die Hand, um mir zu bedeuten, dass ich schweigen solle und Geduld haben möge.
»Dieses Wesen geht um«, rief ich, »dieser verkohlte Bluttrinker.«
»Denk doch jetzt nicht an deine Träume«, sagte er ganz direkt zu mir. »Denk an deine Jugendzeit. Ich liebte dich schon, als du ein zehnjähriges Mädchen warst. Als du fünfzehn warst, bat ich deinen Vater um deine Hand.«
»Wirklich? Das hat er mir nie erzählt.«
Abermals schaute er fort. Dann schüttelte er den Kopf.
»Der Verbrannte!«, sagte ich.
»Das habe ich befürchtet.« Er verfluchte sich selbst.
»Der ist dir vom Tempel aus gefolgt! Oh, Marius, was bist du für ein Narr! Du hast ihm in die Hände gespielt. Aber er ist nicht so schlau, wie er denkt.«
»Marius, hast du mir diese Träume geschickt?«
»Niemals! Ich würde alles in meiner Macht Stehende tun, um dich vor mir zu schützen.«
»Und vor den alten Sagen?«
»Sei nicht vorwitzig, Pandora. Ich weiß, deine ungeheure Geistesgegenwart hat dir vorhin bei deinem abscheuli-chen Bruder Lucius und dem ritterlichen Legaten gute Dienste geleistet. Aber denke nicht zu viel über … Träu-me … nach. Träume bedeuten nichts, und Träume vergehen.«
»Also kamen die Träume von ihm, diesem grässlichen, verbrannten Bluttrinker?«
»Ich kann mir noch keinen Reim darauf machen!«, sagte er. »Aber grüble nicht über diese Bilder nach. Füttere ihn nicht auch noch mit deinen Gedanken.«
»Er kann Gedanken lesen«, stellte ich fest, »genau wie du.«
»Ja, aber du kannst deine Gedanken abschirmen. Es ist ein intellektueller Trick. Man kann ihn lernen. Du kannst herumlaufen mit einer Seele, die in einer kleinen Metallkiste in deinem Kopf verschlossen ist.«
Ich bemerkte, dass ihn etwas heftig quälte. Eine große Traurigkeit ging von ihm aus. »Das darf nicht geschehen!«, sagte er.
»Was meinst du, Marius? Du sprichst von der Stimme dieser Frau, du –«
»Nein, sei ruhig.«
»Das werde ich nicht! Ich will dieser Sache auf den Grund gehen!«
»Du musst dich an meine Anweisungen halten!« Er trat einen Schritt vor und war abermals drauf und dran, mich zu berühren, mich bei den Armen zu nehmen, wie mein Vater es vielleicht gemacht hätte, aber dann unterließ er es doch.
»Nein, jetzt musst du mir alles erzählen«, sagte ich.
Ich staunte über das Weiß seiner Haut, ihre vollkommene Makellosigkeit. Und wieder kam mir der Glanz seiner Augen fast unnormal vor. Unmenschlich.
Erst jetzt fiel mir auch die ganze Pracht seiner langen Haare auf. Er sah wirklich aus wie seine keltischen Vor-fahren. Das Haar fiel ihm bis auf die Schultern. Es war schimmerndes Gold, geradezu strahlend, weizengelb und weich gewellt.
»Sieh dich doch an!«, flüsterte ich. »Du bist kein lebendiger Mensch!«
»Nein, sieh dich noch ein letztes Mal hier um, denn du wirst gleich von hier fortgehen!«
»Was?«, sagte ich. »Ein letztes Mal?« Ich wiederholte seine Worte. »Wovon redest du! Ich bin gerade erst an-gekommen, habe Pläne gemacht, bin meinen Bruder losgeworden! Ich werde hier nicht weggehen. Willst du sagen, du verlässt mich?«
Auf seinem Gesicht spiegelte sich eine große Seelen-pein wider, ein wildes Flehen, wie ich es noch bei keinem Mann gesehen hatte, nicht einmal bei meinem Vater, der seine letzten schicksalsschweren Minuten zu raschem Handeln nutzte und dabei vorging, als wollte er mich nur zu einer wichtigen Verabredung schicken.
Marius’ Augen waren mit einem blutigen Schleier über-zogen. Er weinte, und seine Augen waren wund von Trä-
nen. Nein! Diese Tränen glichen denen der prächtigen Königin in meinem Traum, die, an ihren Thron gekettet, weinte und Wangen, Hals und Kleider mit ihren Tränen benetzte.
Er wollte es abstreiten. Er schüttelte den Kopf, doch er wusste, ich war völlig überzeugt.
»Pandora, als ich dich erkannte«, sagte er, »als du den Tempel betratst und ich sah, dass du die Frau mit den Blutträumen warst, war ich außer mir. Ich muss dich einfach davon fern halten, von dieser Gefahr.«
Ich löste mich aus seinem Bann, von dieser Aura seiner Schönheit. Ich betrachtete ihn kühlen Sinnes, und während er fortfuhr und ich ihm zuhörte, vermerkte ich im Geiste alles, was mir an ihm
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