Anne Rice - Pandora
auffiel, vom Glanz seiner Augen bis hin zu seiner Gestik.
»Du musst Antiochia sofort verlassen«, sagte er. »Diese Nacht werde ich hier bei dir bleiben. Morgen am Tag schnappst du dir dann deinen treuen Flavius und die beiden Mädchen – sie sind ehrlich, nimm sie mit –, und dann wirst du viele Meilen zwischen dich und diese Stadt legen. Tagsüber kann dir die Kreatur nicht folgen! Sag mir nicht, wohin du gehen willst. Das kannst du morgen früh, wenn du am Hafen bist, entscheiden. Geld hast du ja genug.«
»Marius, jetzt bist du derjenige, der träumt; ich werde nicht fortgehen. Wem genau soll ich deiner Meinung nach aus dem Weg gehen? Ist es die weinende Königin auf ihrem Thron? Oder dieser herumstromernde schwarze Mann? Die eine kann mich über Meilen hinweg noch auf dem Meer mit ihrem Ruf erreichen. Sie warnt mich vor meinem bösartigen Bruder. Den anderen kann ich mir leicht vom Hals schaffen. Ich fürchte ihn nicht. Ich weiß aus meinen Träumen, was er für ein Geschöpf ist, und ich weiß, welche Verheerungen die Sonne bei ihm angerichtet hat, und ich werde ihn eigenhändig an die Wand in der Sonne nageln.«
Marius schwieg und biss sich auf die Lippen.
»Ich werde es für sie tun, für die Königin aus meinen Träumen, um sie zu rächen.«
»Pandora, ich bitte dich!«
»Vergeblich«, antwortete ich. »Glaubst du, ich hätte einen so weiten Weg gemacht, nur um wieder davonzulau-fen? Und dann die Stimme dieser Frau –«
»Woher willst du wissen, dass es die Königin war, von der du geträumt hast? Es könnten noch weitere Bluttrinker in dieser Stadt sein. Männer, Frauen. Sie wollen alle das Gleiche.«
»Und du fürchtest sie?«
»Ich verabscheue sie! Und ich muss sie von mir fern halten, darf ihnen nicht geben, wonach sie verlangen!
Niemals werden sie bekommen, was sie verlangen!«
»Ah, jetzt durchschaue ich alles!«, sagte ich.
»Mit Sicherheit nicht!«, sagte er, und sein finsterer Blick schüchterte mich ein. So wild und so vollkommen.
»Du bist einer von ihnen, Marius. Du bist unversehrt.
Du hast keine Verbrennungen. Sie wollen dein Blut, um sich selbst zu heilen.«
»Wie kommst du nur auf eine solche Idee!«
»In meinen Träumen hatten sie einen Namen für die Königin: die ›Urquelle‹.«
Ich lief auf ihn zu und umfing ihn mit meinen Armen! Er war unglaublich stark, fest wie ein Baum! Nie habe ich so harte Muskeln bei einem Mann gespürt. Ich legte meinen Kopf an seine Schulter, und seine Wange auf meinem Haar war eiskalt!
Trotzdem umfing er mich ganz sanft mit beiden Armen, strich mir übers Haar, zog alle Nadeln heraus und ließ es über meinen Rücken fließen. Ich spürte ein starkes Prik-keln auf der Haut.
Hart, sehr hart, doch ohne den Pulsschlag des Lebens.
In seinen sanften, zärtlichen Berührungen keine Wärme von Menschenblut.
»Mein Liebling«, sagte er, »ich kenne den Ursprung deiner Träume nicht, doch eines weiß ich. Du wirst vor mir und vor ihnen bewahrt bleiben. Du wirst niemals Teil dieser alten Mythe werden, die sich Vers um Vers fort-schreibt, gleichgültig, wie sehr die Welt sich auch verändert! Ich werde das nicht zulassen!«
»Du musst mir das alles erklären. Ich werde nicht mit dir gemeinsame Sache machen, bevor du mir alles er-klärt hast. Kennst du die Qualen der Königin in meinem Traum? Ihre Tränen gleichen deinen. Sieh doch! Blut.
Deine Tunika ist befleckt! Ist sie hier, diese Königin? Hat sie mich gerufen?«
»Und was ist, wenn sie es tat und dich strafen will für das frühere Leben, von dem du geträumt hast und in dem sie von den bösen Göttern in Fesseln gelegt wurde?
Was dann?«
»Nein«, sagte ich, »das ist nicht ihre Absicht. Außerdem weigerte ich mich ja zu tun, was diese finsteren Götter im Traum von mir verlangten. Ich trank nicht von der
›Urquelle‹. Ich lief fort, darum starb ich in der Wüste.«
»Ach!« Er warf die Arme in die Luft. Und entfernte sich.
Er starrte hinaus in das dunkle Peristyl. Nur die Sterne beleuchteten die Bäume. Aus dem Speisezimmer auf der anderen Seite des Hauses schimmerte schwaches Licht.
Ich betrachtete ihn, seine außergewöhnliche Größe, seinen geraden Rücken und die Art, wie seine Füße fest auf dem Mosaikboden standen. Das Lampenlicht ließ seine blonden Haare wundersam aufleuchten.
Obwohl er mir den Rücken zuwandte, hörte ich ihn flü-
stern:
»Wie konnte diese dumme Sache nur passieren!«
»Was für eine dumme Sache?«, wollte ich wissen. Ich trat neben ihn. »Du
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