Anne Rice - Pandora
Pandora!
»Und im Tempel des großen Ramses las uns ein Priester die Inschriften an der Wand vor«, fuhr der Legat fort.
»Alles nur Sieg und Krieg! Wir haben gelacht, weil sich nichts je wirklich ändert, meine Dame.«
»Und Piso, der Gouverneur, haltet Ihr die Gerüchte für wahr? Können wir nicht ruhig über sie als Gerüchte reden, anstatt sie als Tatsachen zu nehmen?«
»Jeder hier verachtet ihn!«, sagte der Legat. »Er war, schlicht und einfach gesagt, ein schlechter Soldat! Und Agrippina, die Ältere, Germanicus’ geliebte Frau, ist nun mit der Asche des Generals unterwegs nach Rom. Sie will vor dem Senat offiziell Anklage gegen den Gouverneur erheben.«
»Ja, das ist sehr mutig von ihr, und so sollte man es auch handhaben. Wenn man ganze Familien ohne Gerichtsverfahren verurteilt, dann sind wir der Tyrannei anheim gefallen, ist es nicht so? Du da, unser armer Irrer, bist du nicht auch dieser Ansicht?«
Lucius verschlug es die Sprache! Er lief rot an.
»Und im Teutoburger Wald«, sagte ich mitleidig, »an diesem düsteren Schauplatz unseres Verderbens, habt Ihr da die verstreuten Gebeine unserer untergegangenen Legionen gesehen?«
»Haben sie begraben, meine Dame, mit diesen unseren Händen!« Der Legat streckte mir seine wettergegerb-ten, vernarbten Handflächen entgegen. »Wer konnte sagen, welche Knochen von unseren und welche von ihren Leuten stammten? Und die Tribüne des feigen, hinterhältigen Königs stand immer noch da, wo dieser ab-scheuliche langhaarige Kerl den Befehl gab, dass unsere Männer seinen heidnischen Göttern geopfert werden sollten.«
Die übrigen Soldaten äußerten sich mit Nicken und ehrfürchtigem Gemurmel.
»Ich war noch klein«, erzählte ich, »als wir von dem Hinterhalt erfuhren, in den General Varus geraten war.
Aber ich kann mich noch an unseren göttlichen Kaiser Augustus erinnern – wie er sein Haar wachsen ließ vor Trauer und wie er seinen Kopf gegen die Wand schlug und rief: ›Varus, Varus, gib mir meine Legionen wieder!‹«
»Ihr habt ihn tatsächlich so erlebt?«
»Oh, häufig, und ich war auch an dem Abend dabei, als er seine später oft erwähnten Gedanken diskutierte: dass das Imperium keine weitere Ausdehnung anstreben solle; vielmehr müsse es die Staaten, die schon dazugehörten, ordentlich verwalten.«
»Also hat Kaiser Augustus das wirklich gesagt!« Der Legat war fasziniert.
»Ihr wart ihm nicht gleichgültig«, versicherte ich ihm.
»Wie viele Jahre seid Ihr schon im Feld? Habt Ihr eine Frau?«
»Ach, wie gern kehrte ich nach Hause zurück«, entgegnete er. »Und jetzt ist auch noch mein General gefallen. Meine Frau ist schon ergraut, genau wie ich. Ich sehe sie nur, wenn wir zu Paraden nach Rom kommen.«
»Ja, und während der Republik wurde man nur zu sechs Jahren Kriegsdienst verpflichtet. Aber nun muss man wie lange kämpfen? Zwölf Jahre? Zwanzig Jahre?
Doch wer bin ich, dass ich unseren Kaiser kritisieren könnte, den ich liebte, wie ich meinen Vater und meine toten Brüder geliebt habe!«
Lucius erkannte, worauf das hinauslief. Er stotterte beim Sprechen.
»Tribun, lest meinen Geleitbrief! Lest ihn!«
Der Legat sah richtig verärgert aus.
Mein Bruder bot alle rhetorischen Fähigkeiten auf, die ihm zur Verfügung standen, und das waren nicht viele.
»Sie lügt. Sie ist verurteilt. Ihre Familie ist tot. Ich war gezwungen, vor Sejanus als Zeuge aufzutreten, weil sie Tiberius töten wollten!«
»Wie, Ihr habt Euch gegen Eure eigene Familie gestellt?«, fragte der Soldat.
»Ach, belastet Euch doch nicht damit«, sagte ich schnell. »Der Mann hat mir schon den ganzen Tag zuge-setzt. Er hat herausgefunden, dass ich eine allein stehende Frau bin, eine Erbin, und er glaubt, dass dies hier ein unzivilisierter Vorposten des Reiches wäre, wo er oh-ne Beweise eine Anklage gegen die Tochter eines Senators vorbringen könnte. Du armer Irrer, sei auf der Hut!
Vor kaum hundert Jahren gab Julius Cäsar Antiochia seinen Status als Stadt. Hier sind Legionen stationiert, nicht wahr?«
Ich schaute den Legaten an.
Der richtete seinen Blick mit düster zusammengezoge-nen Brauen auf meinen wutbebenden Bruder.
»Was bedeutet dieser Geleitbrief?«, fragte ich. »Er trägt den Namen Tiberius.«
Ehe Lucius noch reagieren konnte, riss der Soldat ihm das Schreiben aus der Hand und reichte es mir. Ich musste meinen Dolch loslassen, um das Pergament auf-zurollen.
»Ah, Sejanus von den Prätorianern! Ich wusste es! Und der Kaiser weiß vermutlich
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