Anne Rice - Pandora
Fleisch, der sterbliche Geist einem Schmerz auferlegen.
»Oh, ist das nicht großartig!«, sagte ich. »Ich erfahre, dass die Göttin immer noch herrscht, dass sie wirklich ist, dass sie alle Dinge geschaffen hat! Dass die Welt nicht nur ein riesiger Friedhof ist! Aber ich erfahre das, als ich mich in einer arrangierten Ehe wieder finde! Und jetzt sieh dir den Bräutigam an! Wie er sich seinen Launen hingibt!«
Er seufzte und ließ den Kopf hängen. Würde ich ihn, diesen makellosen, so vertrauten und geliebten Gott, inmitten der geknickten Blumen wieder weinen sehen?
Er blickte auf. »Pandora«, sagte er. »Sie ist keine Göttin. Sie hat die Welt nicht geschaffen.«
»Wie kannst du es wagen, so etwas zu sagen!«
»Ich muss es sagen! Ich war bereit, für die Wahrheit zu sterben, als ich noch ein lebendiger Mensch war, und ich würde auch jetzt dafür sterben. Doch so weit wird sie es nicht kommen lassen. Sie braucht mich, und sie braucht dich, um mich glücklich zu machen.«
»Na, sehr schön!« Ich warf die Hände in die Luft. »Ich tue es gern! Und wir werden ihren Kult wieder ins Leben rufen.«
»Das werden wir nicht!«, sagte er. »Wie kannst du auch nur daran denken?«
»Marius, ich will es von den Gipfeln der Berge verkünden; ich will, dass die Welt von der Existenz dieses Wunders erfährt. Ich möchte singend durch die Straßen laufen. Wir müssen sie wieder auf ihren Thron setzen, in einem großen Tempel im Zentrum von Antiochia!«
»Du sprichst im Wahn!«, schrie er.
Die Knaben waren fortgelaufen.
»Marius, hast du deine Ohren vor ihren Geboten verschlossen? Wir müssen ihre abtrünnigen Götter verfolgen und töten, wir müssen dafür sorgen, dass neue Götter aus ihr entstehen, Götter, die in die Seelen der Menschen sehen können, Götter, die Gerechtigkeit wollen anstatt Lügen, Götter, die keine überspannten, lü-
sternen Idioten sind, keine trunkenen, launenhaften, Blitze schleudernden Kreaturen wie die der nordischen Götterwelt. Ihre Verehrung gründet im Guten, im Reinen!«
»Nein, nein, nein«, sagte er und wich zurück, als wollte er seine Worte damit noch unterstreichen. »Du redest Unsinn!«, sagte er. »Dummes Zeug, puren Aberglauben!«
»Ich kann einfach nicht glauben, dass du so sprichst!«, schrie ich. »Du bist ein Ungeheuer!«, sagte ich. »Ihr steht der Thron zu! Und dem König, der neben ihr sitzt. Sie haben es verdient, dass ihre Anhänger ihnen Blumen bringen. Glaubst du, du hast die Fähigkeit, Gedanken zu lesen, für nichts und wieder nichts?« Ich trat auf ihn zu.
»Erinnerst du dich daran, wie ich mich im Tempel über dich lustig gemacht habe? Als ich sagte, du solltest dich im Gerichtssaal niederlassen, damit du die Gedanken der Angeklagten lesen könntest? Ich hatte mit meinen albernen Bemerkungen genau ins Schwarze getroffen!«
»Nein!«, brüllte er. »Das ist einfach nicht wahr!«
Er kehrte mir den Rücken und stürzte ins Haus.
Ich folgte ihm.
Er rannte die Treppe hinunter in ihr Heiligtum, blieb unmittelbar vor ihr stehen. Sie und der König saßen wie zuvor. Keine Wimper zuckte. Nur die Blumen erhielten sich noch am Leben in der mit Wohlgerüchen geschwängerten Luft.
Ich schaute auf meine Hände: so weiß! Konnte ich noch sterben? Würde ich nun viele Jahrhunderte leben wie der Verbrannte?
Ich forschte in ihren Göttern gleich wirkenden Gesichtern. Sie lächelten nicht. Sie träumten nicht. Sie schauten nur, sonst nichts.
Ich fiel auf die Knie.
»Akasha«, flüsterte ich. »Darf ich dich so nennen? Sag mir, was dein Wille ist.«
Man sah keine Veränderung an ihr, nicht die geringste.
»Komm, sprich, Mutter!«, forderte Marius, seine Stimme klang belegt vor Traurigkeit. »Sprich! Ist es das, was du immer wolltest?«
Plötzlich stürzte er nach vorn, sprang die zwei Stufen ihres erhöhten Podests empor und hämmerte mit den Fäusten auf ihre Brüste ein.
Ich war entsetzt.
Sie rührte sich nicht, sie zuckte nicht mit der Wimper.
Seine Fäuste trafen auf eine Härte, die er nicht bewegen konnte. Nur ihr Haar, das er mit seinem Arm gestreift hatte, schwang leicht hin und her.
Ich lief zu ihm und versuchte ihn fortzuziehen.
»Hör auf, Marius, sie wird dich vernichten!« Ich wunderte mich, wie stark ich war. Sicherlich so stark wie er. Er ließ sich von mir fortziehen, sein Gesicht war tränenüber-strömt.
»Ach, was habe ich getan!«, sagte er, während er sie anstarrte. »Oh, Pandora, Pandora! Was habe ich getan!
Ich habe wieder einen
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