Anne Rice - Pandora
Das ist jetzt notwendig.«
»Ja, und du bist hitzköpfig und sentimental und lässt deinen Tränen immer wieder freien Lauf – und du schlägst sogar auf die Königin ein wie ein Kind in einem Wutanfall.«
Sein Gesicht rötete sich in neu aufflammendem Zorn.
Der Zorn verschloss ihm die Lippen.
Er drehte sich auf dem Absatz um und ging.
»Wirfst du mich raus?«, rief ich hinter ihm her. »Willst du, dass ich verschwinde?«, schrie ich. »Dies ist dein Haus. Sag mir, wenn ich gehen soll, und ich gehe!«
Er blieb stehen und sagte: »Nein.«
Dann drehte er sich um und sah mich an, völlig überrascht und erschüttert. Seine Stimme war rau, als er sagte: »Geh nicht, Pandora.« Er blinzelte, als müsste er einen Schleier vor seinen Augen vertreiben. »Geh nicht, bitte, geh nicht.« Und dann ein abschließendes Flüstern:
»Wir gehören einander.«
»Und wohin willst du jetzt, damit du von mir weg-kommst?«
»Ich will ihr nur ein frisches Gewand anziehen«, sagte er mit einem traurigbitteren Lächeln. »Ich will ›diesen kühnen Beweis komplexer göttlicher Magie‹ reinigen und neu einkleiden.«
Er verschwand.
Ich wandte mich in das violette Dunkel des Gartens. Zu den Wolken, die vom Mond umgetrieben wurden, als wollte er der Dunkelheit trotzen. Zu den hohen alten Bäumen, die mich einluden: »Steig in unser Geäst, wir wollen dich umarmen!« Zu den Blumen hier und da, die sagten: »Wir sind dein Bett. Leg dich zu uns.«
Und so begann der zweihundert Jahre währende Kampf.
Und er hat nie wirklich aufgehört.
10
Mit geschlossenen Augen lauschte ich den Geräuschen der Stadt, den Stimmen aus benachbarten Häusern; ich hörte die Unterhaltung von Männern, die draußen auf der Straße vorbeigingen. Von irgendwoher kam Musik und das Lachen von Frauen und Kindern. Wenn ich mich konzentrierte, konnte ich sogar verstehen, was sie sagten. Aber ich wollte nicht, und ihre Stimmen wehten mit der leichten Brise davon.
Plötzlich schien mir dieser Zustand unerträglich. Mir war, als könnte ich nur eines tun: schnellstens zurück in das Heiligtum eilen, niederknien und beten! Diese neuen Sinne, die mir geschenkt worden waren, schienen zu nichts anderem gut zu sein. Wenn das mein Los war, was sollte dann aus mir werden?
Durch all diese Gedanken drang das Weinen eines Menschen in tiefstem Schmerz an mein Ohr; es war das Echo meines eigenen Schmerzes; da konnte eine Seele, die von einer großen Hoffnung Abschied nehmen musste, kaum glauben, dass etwas, das so schön begonnen hatte, in Schrecken enden sollte.
Es war Flavius.
Ich sprang mit einem Satz in den alten, krummen Oli-venbaum. Das war ebenso leicht, wie einen Schritt zu machen. Ich stand zwischen den Ästen, sprang von da aus zum nächsten Baum und dann auf die mit Kletter-pflanzen bewachsene Mauerkrone. Ich lief auf der Mauer entlang bis zum Tor.
Da stand er, die Stirn gegen das Gitter gepresst, mit beiden Händen die Eisenstäbe umklammernd. Er blutete aus einigen Schnittwunden an der Wange. Er knirschte mit den Zähnen.
»Flavius!«, rief ich.
Erschrocken blickte er herauf.
»Herrin Pandora!«
Im hellen Mondschein entdeckte er sicher das Wunder, das an mir geschehen war, wenn er auch die Ursache nicht kannte. Denn seine eigene Sterblichkeit fiel mir auf; ich sah die in seine Haut eingegrabenen Falten, sah das schmerzliche Zucken seiner Augenlider und eine dünne Schmutzschicht, die in der normalen Feuchtigkeit seiner menschlichen Haut überall an ihm haftete.
»Du musst nach Hause gehen«, drängte ich ihn und setzte mich schwungvoll auf die Mauer, mit den Beinen nach außen. Ich beugte mich zu ihm hinunter, damit er mich hören konnte. Er schreckte nicht zurück, aber seine Augen weiteten sich vor Staunen. »Geh und kümmere dich um die Mädchen, und dann schlaf; sieh zu, dass diese Wunden behandelt werden. Der Dämon ist tot, du brauchst dir deswegen keine Sorgen mehr zu machen.
Komm morgen wieder hierher, bei Sonnenuntergang.«
Er schüttelte den Kopf. Er wollte sprechen, aber es gelang ihm nicht. Nicht einmal gestikulieren konnte er. Das Herz hämmerte in seiner Brust. Er blickte die Straße hinunter auf die weit entfernten Lichter von Antiochia. Dann schaute er mich an. Ich hörte, wie sein Herz raste. Ich spürte seinen Schock und seine Angst, und es war Angst um mich, nicht um sich selbst. Angst, dass irgendein schreckliches Schicksal mich ereilt haben könnte. Er griff wieder nach dem Tor und klammerte sich an die Stäbe, wobei sein
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