Anne Rice - Pandora
rechter Arm darumgeschlungen war und von der linken Hand gehalten wurde, so als ließe er sich unter keinen Umständen fortbewegen.
Ich sah mich selbst, wie er mich innerlich wahrnahm: in einer gegürteten Männertunika, mit ungebändigtem, offe-nem Haar, oben auf der Mauerkrone sitzend, als wäre mein Körper jung und biegsam. Alle Linien, die die Zeit meinen Zügen aufgeprägt hatte, waren verschwunden.
Er sah ein Gesicht an mir, wie es niemand je hätte malen können.
Aber jetzt war etwas anderes wichtig: Der Mann hatte seine Grenzen erreicht. Er konnte nicht mehr. Und in dem Moment war mir völlig klar, dass ich ihn liebte.
»Also gut«, sagte ich. Ich stand auf und beugte mich mit ausgestreckten Händen vornüber. »Los, komm, ich werde dich über die Mauer heben, wenn ich es schaffe.«
Er hob zweifelnd seine Arme, während seine Augen immer noch jede Einzelheit meiner Verwandlung in sich aufsogen. Er hatte kein Gewicht. Ich zog ihn hoch und stellte ihn jenseits des Tores wieder auf die Füße. Dann sprang ich neben ihn ins Gras und legte den Arm um ihn.
Wie heiß sein Erschrecken war. Wie stark sein Mut.
»Beruhige dich«, sagte ich zu ihm. Ich führte ihn zum Haus, und während er auf mich niedersah, hob und senkte sich seine Brust, als wäre er außer Atem, doch es war der Aufruhr in seinem Inneren, der das bewirkte. »Ich passe auf dich auf!«
»Ich hatte das Ungeheuer schon«, sagte er. »Ich hatte es am Arm gepackt!« Wie belegt seine Stimme klang, getrübt von den Anstrengungen. »Ich habe es immer wieder mit meinem Dolch durchbohrt, aber es schlitzte mir das Gesicht auf und verschwand über die Mauer wie ein Mückenschwarm, wie Dunkelheit, unstoffliche Dunkelheit!«
»Flavius, das Ungeheuer ist tot, zu Asche verbrannt!«
»Wenn ich nicht Eure Stimme gehört hätte, oh, ich wäre wahnsinnig geworden! Ich hörte die Jungen weinen. Aber mit diesem verfluchten Bein kam ich nicht über die Mauer. Dann hörte ich Eure Stimme, und ich wusste es, wusste, Ihr lebt.« Er war überglücklich. »Ihr wart bei Eurem Marius.« Das Selbstverständliche seiner Liebe erfüll-te mich mit Zärtlichkeit und Ehrfurcht.
Plötzlich überfiel mich die Erinnerung an das Heiligtum, an den Nektar der Königin, an die niederschwebenden Blütenblätter. Doch ich durfte in diesem neuen Zustand nicht aus dem Gleichgewicht kommen. Flavius stand auch vor einem Rätsel.
Ich küsste ihn auf die Lippen, diese warmen, sterblichen Lippen, und dann leckte ich flink wie eine geschickte Katze das Blut von den Wundmalen auf seinen Wangen, dabei durchlief mich ein Schauer.
Ich nahm Flavius mit in die Bibliothek, die in diesem Haus der zentrale Raum war. Die Knaben lungerten irgendwo herum. Sie hatten alle Lampen im Haus angezündet und sich hingekauert. Ich konnte das Aroma ihres Blutes und ihres jungen menschlichen Fleisches riechen.
»Du bleibst hier bei mir, Flavius. Und ihr beiden, könnt ihr hier unten für meinen Haushofmeister eine Kammer herrichten? Brot und Früchte habt ihr im Haus, nicht wahr? Ich rieche es. Habt ihr auch genügend Mobiliar, um es ihm dort auf der rechten Seite, wo er nicht im Weg ist, bequem zu machen?«
Sie huschten aus ihren Verstecken; auch sie kamen mir auffallend menschlich vor. Ich war irritiert. Selbst die kleinsten natürlichen Merkmale an ihnen schienen mir kostbar: ihre dichten schwarzen Augenbrauen, die kleinen Schmollmünder, ihre glatten Wangen.
»Ja, Herrin, sicher!«, riefen sie fast einstimmig und eilten herbei.
»Dies ist Flavius, mein Haushofmeister. Er wird hier bei uns bleiben. Führt ihn erst ins Bad, macht Wasser heiß, und seid ihm behilflich. Besorgt ihm auch Wein.«
Sie nahmen sich seiner sofort an. Doch er blieb stehen.
»Herrin, lasst mich nicht im Stich«, sagte er mit tiefern-ster, sorgenvoller Miene. »Ich bin in jeder Hinsicht treu.«
»Ich weiß«, beruhigte ich ihn. »Und wie ich dich verstehe. Das kannst du dir gar nicht vorstellen.«
Dann verschwand er im Bad, zusammen mit den baby-lonischen Knaben, die entzückt zu sein schienen, dass sie endlich eine Aufgabe hatten.
Ich fand Marius’ riesigen Ankleideraum. Er besaß ge-nügend Kleidung, um damit die Könige von Parthien und Armenien auszustatten sowie die Mutter des Kaisers, die verblichene Kleopatra und einen Prunk liebenden Patrizier, der sich über Tiberius’ törichte Gesetze gegen Luxus hinwegsetzte.
Ich zog mir eine viel elegantere, lange Tunika an, aus Seide und Leinen gewebt, dazu wählte ich einen
Weitere Kostenlose Bücher