Anne Rice - Pandora
festhalten.
»Er soll brennen, oben auf dem Richtplatz in den Bergen; in die Sonne mit ihm, legt ihm die stärksten Ketten an!«, rief sie. Man zog ihn weg.
Abermals hob sie den Blick. Die Sterne wuchsen, und es zeigten sich deutlich uralte Strukturen. Wir trieben unter den Sternen dahin.
Ein Knabe auf einem zierlichen, vergoldeten Stuhl stritt sich mit den umstehenden Männern. Diese waren alt, in der Dunkelheit nur halb sichtbar. Das Gesicht des Knaben wurde von der Lampe beschienen. Wir standen in der Tür. Der Knabe war zart, seine kleinen Glieder erschienen wie Stöcke.
»Und du behauptest«, sagte der Knabe ungläubig,
»dass diese Bluttrinker oben in den Bergen verehrt werden?«
Ich erkannte, dass er der Pharao war, an der gesalbten Haarlocke auf seinem ansonsten kahlen Schädel und an der Art, wie die anderen ihm ihre Aufwartung machten.
Als sie sich ihm näherte, sah er entsetzt auf. Seine Wächter ergriffen die Flucht.
»Ja«, sagte sie zu ihm, »und du wirst nichts dagegen unternehmen!« Sie hob den Knaben hoch, klein und zart, wie er war, und ähnlich wie ein Tier riss sie seine Kehle auf und ließ das Blut aus der tödlichen Wunde strömen.
»Kleiner König«, sagte sie. »Kleines Königreich.«
Die Vision endete. Ihre kalte weiße Haut schloss sich unter meinen Lippen.
Ich küsste sie jetzt. Ich trank nicht mehr.
Ich spürte meine eigene Gestalt, spürte, wie ich rück-wärts über ihren Arm sank, aus ihrer Umschlingung glitt.
In dem dämmrigen Glanz war ihr Profil unverändert, stumm und ohne Empfindung wie zuvor. Glatt, ein makelloses Antlitz ohne jedes Fältchen. Ich sank in Marius’
Arme, während ihr Arm wieder in die alte starre Haltung zurückfiel.
Die Dinge ringsum waren von blendender Klarheit –
das bewegungslose königliche Paar, die kunstvoll aus Lapislazuli gearbeiteten Figuren in den goldenen Mosaiken.
Ich spürte einen scharfen Schmerz im Herzen, im Bauch, als hätte mich jemand durchbohrt. »Marius!«, schrie ich.
Er hob mich hoch und trug mich aus dem Gewölbe.
»Nein, lass mich zu ihren Füßen knien«, stöhnte ich.
Der Schmerz nahm mir den Atem. Ich bemühte mich, nicht zu schreien. Ach, gerade war die Welt mir neugeboren worden. Und nun diese Todesqualen.
Marius bettete mich draußen ins hohe Gras, das unter meinem Gewicht zusammensank. Ein Schwall säuerlicher Flüssigkeit ergoss sich aus meinem Leib, selbst aus meinem Mund. Neben mir blühten Blumen. Der freundliche Himmel stand so lebhaft wie in meiner Vision vor meinen Augen. Der Schmerz wütete unbeschreiblich.
Nun wusste ich, warum Marius mich aus dem Heiligtum fortgebracht hatte.
Ich wischte mir über das Kinn. Ich konnte diesen Unrat nicht ertragen. Der Schmerz verschlang mich. Ich be-mühte mich, ihre Offenbarungen wieder vor mir erstehen zu lassen, mich an ihre Worte zu erinnern, doch diese Qualen blockierten mich zu sehr.
»Marius!«, schrie ich.
Er beugte sich über mich und küsste meine Wange.
»Trink von mir«, murmelte er, »trink, bis der Schmerz vergeht. Es ist nur dein Körper, der stirbt. Trink. Pandora, du bist unsterblich.«
»Erfülle mich, nimm mich«, bat ich und griff zwischen seine Beine.
»Das hat jetzt keine Bedeutung.«
Doch es war hart, dieses Organ, nach dem ich gesucht hatte, das Organ, das für Osiris auf immer verloren war.
Ich führte es, hart und kalt, wie es war, in meinen Schoß.
Dann trank ich und trank, und als ich seine Zähne abermals an meinem Hals spürte, als er dieses neue Gemisch, das nun in meinen Adern floss, in sich aufsog, war es ein süßes, ziehendes Gefühl, und ich erkannte ihn und liebte ihn und kannte mit einem Schlag all seine Geheimnisse, was ohne Bedeutung war.
Er hatte Recht. Die niederen Organe bedeuteten nichts.
Er nährte sich von mir und ich von ihm. Dies war unsere Hochzeit. Das Gras um uns wiegte sich sanft in der Brise, ein majestätisches Ehebett, und der Duft des Grüns überflutete mich.
Der Schmerz war vergangen. Schwungvoll streckte ich den Arm aus und fühlte die Zartheit der Blumen.
Marius zog mir das beschmutzte Kleid vom Körper und hob mich hoch. Er trug mich zu dem Becken, zu dem sich die marmorne Venus auf ewig hinunterbeugte und einen Fuß über das kühle Wasser hielt.
»Pandora!«, flüsterte er.
Neben ihm standen die beiden Knaben mit Krügen.
Er tauchte einen Krug ein und goss Wasser über mich.
Ich spürte unter meinen Füßen die Fliesen des Beckens, während das Wasser über meine Haut rann, solche
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