Ans Glueck koennte ich mich gewoehnen
kulturunabhängige Moral im Sinne einer Tötungshemmung: Ein Transportwagen mit fünf Personen, Zuglore genannt, rast auf ein Unglück zu. Dieses Unglück würde fünf Opfer fordern. Es besteht nun die Möglichkeit, dass ein Beobachter eine Weiche betätigt, die die Lore umleitet. Diese Umstellung der Weiche würde eine unbeteiligte Person das Leben kosten, da diese unweigerlich von der Lore erfasst werden würde. Fünf Personen wären jedoch gerettet.
Eine ähnliche Situation wäre die, dass jemand von der Fußgängerbrücke aus beobachtet, dass die Lore verunglückt. Die einzige Möglichkeit, die Lore zu stoppen, wäre nun, einen Menschen übers Brückengeländer zu stoßen. Empirisch ist nachgewiesen, dass die meisten Menschen viele Menschenleben retten möchten und dafür auch die Weiche umstellen würden. Die wenigsten wären jedoch bereit, jemanden vom Brückengeländer zu stoßen, auch wenn das Zahlenverhältnis von Getöteten und Geretteten gleich ist.
Solche oder ähnliche Gedankenexperimente gelten als Nachweis eines angeborenen moralischen Gefühls. Joshua Greene und sein Team an der Princeton University haben zum Nachweis die Menschen, die in einem ethischen Dilemma standen, mit einem funktionellen Magnetresonanztomografen untersucht. Sie stellten dabei fest, dass im ersten Fall, dem der Weichenumstellung, weniger Hirnaktivierung stattfand als im Zweiten. Das bedeutet, dass dann, wenn wir selbst Hand anlegen müssen, unser Gehirn aktiver ist. Allein bei der Vorstellung, jemanden von der Brücke zu stoßen, regen sich in uns wohl hemmende Gefühle. 34
Diese Erkenntnisse sind zwar hilfreich und bestätigen, dass bei moralischen Entscheidungen Gefühle eine Rolle spielen. Ob eine Handlung aber gut oder schlecht ist, wissen wir damit immer noch nicht. Sowohl die Beobachtungen von Tieren als auch die moralischen Tests mit Mensch oder Tier beantworten auch nicht endgültig die Frage nach: »Angeboren oder anerzogen?« Denn wie wir wissen, ist auch unser Gehirn nicht statisch, sondern dynamisch und lernfähig. Es ist durch die Evolution darauf vorbereitet, Verhaltensregeln einer Gruppe zu erlernen, um sie dann zur Grundlage des eigenen Handelns zu machen. Nervenzellen können deshalb genauso Gerechtigkeit auslösen, wie sie das Heben des rechten Arms auslösen können.
Aber halten wir hier kurz an. Was wäre denn, wenn wir ganz genau wüssten, was angeboren und was anerzogen ist? Wenn wir ganz genau und mit Sicherheit wüssten, woher die Moral kommt? Würde unser Leben dann anders verlaufen? Hätten wir gar eine bessere Gesellschaft? Zu wissen, an welcher Schraube zu drehen ist, wäre das die Lösung? Vielleicht hilft es manchmal, nicht jede einzelne Schraube zu analysieren, sondern eher den Blick aufs Ganze zu richten.
Den ganzen Tag kannst du dich ärgern, musst aber nicht
Der Psychologe und Philosoph William James beschrieb das Bewusstsein vor mehr als hundert Jahren so: »Mein Erleben ist das, worauf ich mich entschieden habe, meine Aufmerksamkeit zu richten.« 35
Es geht hier um den Blickwinkel. Denn auch die Frage nach Gut und Böse ist eine Frage des Blickwinkels. Genau wie für den einen das Glas halb voll und für den anderen halb leer ist; der eine sich freut über den Regen für den trockenen Garten, der andere sich ärgert, weil sein Spaziergang ins Wasser fällt. Es zählen dabei nicht die äußeren Tatsachen, sondern das innere Erleben. Wir haben immer einen Interpretationsspielraum, können Vorgefundenes so oder auch anders bewerten.
Werner Bartens beschreibt in seinem Buch Körperglück den Fall einer Patientin mit Tikuspidalklappen-Stenose, im Mediziner-Jargon kurz TS. Bei TS handelt es sich um die Verengung einer Herzklappe, die meist harmlos und auf gar keinen Fall lebensbedrohlich ist. Die Patientin lag in ihrem Bett, als der Chefarzt mit seinen Ärzten Visite machte. Der Chefarzt hatte nicht viel Zeit und teilte am Patientenbett seinen Kollegen mit, dass es sich bei dieser Patientin um einen typischen Fall von TS handle.
Die Patientin hatte aufmerksam zugehört und TS als »terminale Situation« interpretiert. Zu einem jungen Assistenzarzt sagte sie: »Das ist das Ende.« Die Patientin war am Boden zerstört, resignierte völlig und wollte ab sofort nichts mehr von den Ärzten wissen. Der junge Assistenzarzt Lown versuchte die Patientin zu beruhigen, indem er ihr versicherte, dass sie sich wirklich keine Sorgen zu machen brauche, aber ihr Gesundheitszustand verschlechterte sich von
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