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Ansichten eines Clowns

Ansichten eines Clowns

Titel: Ansichten eines Clowns Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heinrich Böll
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herunterkommt, um neun, mußt du wieder hier sein. Geh«, sagte sie, »du mußt es deinem Bruder Leo sagen, bevor ers von irgend jemand anderem erfährt.«
    »Ja«, sagte ich, »du hast recht - und du«, ich wurde schon wieder rot, »mußt du nicht zur Schule?«
    »Ich geh heute nicht«, sagte sie, »nie mehr gehe ich. Komm rasch zurück.«
    Es fiel mir schwer, von ihr wegzugehen, sie brachte mich bis zur Ladentür, und ich küßte sie in der offenen Tür, so daß Schmitz und seine Frau drüben es sehen
    konnten. Sie glotzten herüber wie Fische, die plötzlich überrascht entdecken, daß sie den Angelhaken schon lange verschluckt haben.
    Ich ging weg, ohne mich umzusehen. Mir war kalt, ich schlug den Rockkragen
    hoch, steckte mir eine Zigarette an, machte einen kleinen Umweg über den Markt, ging die Franziskanerstraße runter und sprang an der Ecke Koblenzer Straße auf den fahrenden Bus, die Schaffnerin drückte mir die Tür auf, drohte mir mit dem Finger, als ich bei ihr stehen blieb, um zu bezahlen, und deutete kopfschüttelnd auf meine Zigarette. Ich knipste sie aus, schob den Rest in meine Rocktasche und ging zur Mitte durch. Ich stand nur da, blickte auf die Koblenzer Straße und dachte an Marie. Irgend etwas in
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    meinem Gesicht schien den Mann, neben dem ich stand, wütend zu machen. Er senkte sogar die Zeitung, verzichtete auf sein »Strauß: mit voller Konsequenz!«, schob seine Brille vorne auf die Nase, sah mich kopfschüttelnd an und murmelte »Unglaublich.«
    Die Frau, die hinter ihm saß — ich war fast über einen Sack voll Möhren, den sie neben sich stehen hatte, gestolpert - nickte zu seinem Kommentar, schüttelte auch den Kopf und bewegte lautlos ihre Lippen.
    Ich hatte mich sogar ausnahmsweise vor Maries Spiegel mit ihrem Kamm
    gekämmt, trug meine graue, saubere, ganz normale Jacke, und mein Bartwuchs war nie so stark, daß ein Tag ohne Rasur mich zu einer »unglaublichen« Erscheinung hätte machen können. Ich bin weder zu groß, noch zu klein, und meine Nase ist nicht so lang, daß sie in meinem Paß unter besondere Merkmale eingetragen ist. Dort
    steht: keine. Ich war weder schmutzig noch betrunken, und doch regte die Frau mit dem Möhrensack sich auf, mehr als der Mann mit der Brille, der schließlich nach einem letzten verzweifelten Kopfschütteln seine Brille wieder hochschob und sich mit Straußens Konsequenzen beschäftigte. Die Frau fluchte lautlos vor sich hin, machte unruhige Kopfbewegungen, um den übrigen Fahrgästen mitzuteilen, was ihre Lippen nicht preisgaben. Ich weiß bis heute nicht, wie Juden aussehen, sonst könnte ich ermessen, ob sie mich für einen gehalten hat, ich glaube eher, daß es nicht an meinem Äußeren lag, eher an meinem Blick, wenn ich aus dem Bus auf die Straße blickte und an Marie dachte. Mich machte diese stumme Feindseligkeit nervös, ich stieg eine Station zu früh aus, und ich ging zu Fuß das Stück die Ebertallee hinunter, bevor ich zum Rhein hin abschwenkte.
    Die Stämme der Buchen in unserem Park waren schwarz, noch feucht, der
    Tennisplatz frischgewalzt, rot, vom Rhein her hörte ich das Hupen der Schleppkähne, und als ich in den Flur trat, hörte ich Anna in der Küche leise vor sich hinschimpfen.
    Ich verstand immer nur ». . . kein gutes Ende — gutes Ende - kein.« Ich rief in die offene Küchentür hinein:
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    »Für mich kein Frühstück, Anna«, ging rasch weiter und blieb im Wohnzimmer
    stehen. So dunkel war mir die Eichentäfelung, die Holzgalerie mit Humpen und
    Jagdtrophäen noch nie vorgekommen. Nebenan im Musikzimmer spielte Leo eine
    Mazurka von Chopin. Er hatte damals vor, Musik zu studieren, stand morgens um
    halb sechs auf, um vor Schulbeginn noch zu üben. Was er spielte, versetzte mich in eine spätere Tageszeit, und ich vergaß auch, daß Leo spielte. Leo und Chopin passen nicht zueinander, aber er spielte so gut, daß ich ihn vergaß. Von den älteren
    Komponisten sind mir Chopin und Schubert die liebsten. Ich weiß, daß unser
    Musiklehrer recht hatte, wenn er Mozart himmlisch, Beethoven großartig, Gluck
    einzigartig und Bach gewaltig nannte; ich weiß. Bach kommt mir immer vor wie eine dreißig-bändige Dogmatik, die mich in Erstaunen versetzt. Aber Schubert und
    Chopin sind so irdisch, wie ich es wohl bin. Ich höre sie am liebsten. Im Park, zum Rhein hin, sah ich vor den Trauerweiden die Schießscheiben in Großvaters Schieß-
    stand sich bewegen. Offenbar war Fuhrmann beauftragt, sie zu ölen. Mein Großvater

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