Ansichten eines Clowns
sich hin.
»Was«, fragte ich, »was hast du gesagt?«
»Daß ich jetzt doch mit dem Auto fahren muß - bringst du mich?«
Ich sagte ja, nahm ihn bei der Schulter und ging neben ihm her durchs Wohnzimmer.
Ich wollte es ihm ersparen, mich anzusehen. »Geh und hol die Schlüssel«, sagte ich,
»dir gibt Mutter sie - und vergiß die Papiere nicht - und, Leo, ich brauche Geld - hast du noch Geld?«
»Auf der Kasse«, sagte er, »kannst du's dir selber holen?«
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»Ich weiß nicht«, sagte ich, »schick es mir lieber.«
»Schicken?« fragte er. »Willst du weggehen?«
»Ja«, sagte ich. Er nickte und ging die Treppe hinauf.
Erst in dem Augenblick, als er mich fragte, hatte ich gewußt, daß ich weggehen wollte. Ich ging in die Küche, wo Anna mich knurrend empfing.
»Ich dachte, du wolltest kein Frühstück mehr«, sagte sie böse.
»Frühstück nicht«, sagte ich, »aber Kaffee.«Ich setzte mich an den gescheuerten Tisch und sah Anna zu, wie sie am Herd den Filter von der Kaffeekanne nahm und ihn zum Austropfen auf eine Tasse stellte. Wir frühstückten immer morgens mit den Mädchen in der Küche, weil es uns zu langweilig war, im Eßzimmer feierlich serviert zu bekommen. Um diese Zeit war nur Anna in der Küche. Norette, das Zweitmädchen,
war bei Mutter im Schlafzimmer, servierte ihr das Frühstück und besprach mit ihr Garderobe und Kosmetik. Wahrscheinlich mahlte Mutter jetzt irgendwelche
Weizenkeime zwischen ihren herrlichen Zähnen, während irgendein Zeug, das aus
Plazenten hergestellt ist, auf ihrem Gesicht liegt und Norette ihr aus der Zeitung vorliest. Vielleicht waren sie auch jetzt erst beim Morgengebet, das sich aus Goethe und Luther zusammensetzt und meistens einen Zusatz moralischer Aufrüstung erhält, oder Norette las meiner Mutter aus den gesammelten Prospekten für Abführmittel vor. Sie hat ganze Schnellhefter voll Medikamentenprospekte, getrennt nach
»Verdauung«, »Herz«, »Nerven«, und wenn sie irgendwo eines Arztes habhaft
werden kann, informiert sie sich nach »Neuerscheinungen«, spart dabei das Honorar für eine Konsultation. Wenn einer der Ärzte ihr dann Probepackungen schickt, ist sie selig.
Ich sah Annas Rücken an, daß sie den Augenblick scheute, wo sie sich rumdrehen, mir ins Gesicht blicken und mit mir reden mußte. Wir beide haben uns gern, obwohl sie die peinliche Tendenz, mich zu erziehen, nie unterdrücken kann. Sie war schon fünfzehn Jahre bei uns, Mutter hat sie von einem
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Vetter, der evangelischer Pfarrer war, übernommen. Anna ist aus Potsdam, und
schon die Tatsache, daß wir, obschon evangelisch, rheinischen Dialekt sprechen, kommt ihr irgendwie ungeheuerlich, fast widernatürlich vor. Ich glaube, ein
Protestant, der bayrisch spräche, würde ihr wie der Leibhaftige vorkommen. Ans Rheinland hat sie sich schon ein bißchen gewöhnt. Sie ist groß, schlank und stolz drauf, daß sie »sich wie eine Dame bewegt«. Ihr Vater war Zahlmeister bei einem Ding, von dem ich nur weiß, daß es I. R. 9 hieß. Es nutzt gar nichts, Anna zu sagen, daß wir ja nicht bei diesem I. R. 9 sind; was Jugenderziehung anbelangt, läßt sie sich nicht von dem Spruch abbringen: »Das wäre beim I. R. 9 nicht möglich gewesen.«
Ich bin nie ganz hinter dieses I. R. 9 gekommen, weiß aber inzwischen, daß ich in dieser geheimnisvollen Erziehungsinstitution wahrscheinlich nicht einmal als
Kloreiniger eine Chance gehabt hätte. Vor allem meine Waschpraktiken riefen bei Anna immer I. R. 9-Beschwörun-gen hervor, und »diese fürchterliche Angewohnheit, so lange wie möglich im Bett zu bleiben«, ruft bei ihr einen Ekel hervor, als wäre ich mit Lepra behaftet. Als sie sich endlich umdrehte, mit der Kaffeekanne an den Tisch kam, hielt sie die Augen gesenkt wie eine Nonne, die einen etwas anrüchigen Bischof bedient. Sie tat mir leid, wie die Mädchen aus Maries Gruppe. Anna hatte mit ihrem Nonneninstinkt sicher gemerkt, wo ich herkam, während meine Mutter wahrscheinlich, wenn ich drei Jahre lang mit einer Frau heimlich verheiratet wäre, nicht das geringste merken würde. Ich nahm Anna die Kanne aus der Hand, goß mir Kaffee ein, hielt Annas Arm fest und zwang sie, mich anzusehen: sie tat es mit ihren blassen, blauen Augen, flatternden Lidern, und ich sah, daß sie tatsächlich weinte.
»Verdammt, Anna«, sagte ich, »sieh mich an. Ich nehme an, daß man in deinem I. R. 9
sich auch mannhaft in die Augen geschaut hat.«
»Ich bin kein Mann«, wimmerte sie, ich ließ sie los;
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