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Ansichten eines Clowns

Ansichten eines Clowns

Titel: Ansichten eines Clowns Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heinrich Böll
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Sie wollen doch die beiden Fälle nicht etwa miteinander vergleichen?« - »Wieso nicht?« sagte ich. »Das können Sie nur, weil Ihnen Besewitz kein Begriff ist«, sagte er wütend, »er ist der feinsinnigste Autor, der die Bezeichnung christlich verdient.« Und ich wurde auch wütend und sagte: »Wissen Sie denn, wie feinsinnig Frehlingen war - und welch ein christlicher Arbeiter.« Er sah mich nur kopfschüttelnd an und hob verzweifelt die Hände. Es entstand eine Pause, in der man nur Monika Silvs hüsteln hörte, aber sobald
    Fredebeul im Zimmer ist, braucht kein Gastgeber Angst vor einer Gesprächspause zu haben. Er hakte sich in die kurze Stille sofort ein, lenkte zum Thema des Abends zurück und sprach von der Relativität des Armutsbegriffs, etwa eineinhalb Stunden lang, bis er endlich Kinkel Gelegenheit gab, die Anekdote von jenem Mann zu
    erzählen, der zwischen fünfhundert Mark und dreitausend im Monat das nackte Elend erlebt hatte, und Züpfner bat mich um eine Zigarette, um seine Schamröte mit
    Rauch zu verhüllen.
    Mir war so elend wie Marie, als wir mit der letzten Bahn nach Köln zurückfuhren.
    Wir hatten das Geld für die Fahrt zusammengekratzt, weil Marie soviel daran gelegen hatte, die Einladung anzunehmen. Es war uns auch körperlich übel, wir hatten zu wenig gegessen und mehr getrunken, als wir gewohnt waren. Die Fahrt kam uns
    endlos lang vor, und als

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    wir in Köln-West ausstiegen, mußten wir zu Fuß nach Hause gehen. Wir hatten kein Fahrgeld mehr.
    Bei Kinkel kam sofort jemand ans Telefon. »Alfred Kinkel hier«, sagte eine
    selbstbewußte Jungenstimme.
    »Schnier«, sagte ich, »könnte ich Ihren Vater sprechen?«
    »Schmer, der Theologe oder Schnier, der Clown?«
    »Der Clown«, sagte ich.
    »Ach«, sagte er, »ich hoffe, Sie nehmen es nicht zu schwer ?«
    »Schwer ?« sagte ich müde, »was soll ich nicht zu schwer nehmen?«
    »Was?« sagte er, »Sie haben die Zeitung nicht gelesen?«
    »Welche?« sagte ich.
    »Die Stimme Bonns«, sagte er.
    »Ein Verriß ?« fragte ich.
    »Oh«, sagte er, »ich glaube, das ist schon eher eine Todesanzeige. Soll ichs Ihnen mal holen und vorlesen?«
    »Nein, danke«, sagte ich. Dieser Junge hatte einen hübsch sadistischen Unterton in der Stimme.
    »Aber Sie sollten sichs anschauen«, sagte er, »um daraus zu lernen.« Mein Gott, pädagogische Ambitionen hatte er auch noch.
    »Wer hats denn geschrieben?« sagte ich.
    »Ein gewisser Kostert, der als unser Korrespondent im Ruhrgebiet bezeichnet
    wird. Glänzend geschrieben, aber ziemlich gemein.«
    »Nun ja«, sagte ich, »er ist ja auch ein Christ.«
    »Sie etwa nicht?«
    »Nein«, sagte ich, »Ihr Vater ist wohl nicht zu sprechen?«
    »Er will nicht gestört werden, aber für Sie störe ich ihn gerne.«
    Es war das erstemal, daß Sadismus mir nützlich wurde. »Danke«, sagte ich.
    Ich hörte, wie er den Hörer auf den Tisch legte, durchs Zimmer ging, und wieder hörte ich im Hintergrund dieses böse Zischen. Es hörte sich an, als wäre eine ganze Schlangen-90
    familie miteinander in Streit geraten: zwei männliche Schlangen und eine weibliche. Es ist mir immer peinlich, wenn ich Augen- oder Ohrenzeuge von Vorgängen werde, die nicht für mein Auge oder Ohr bestimmt sind, und die mystische Begabung, durchs Telefon Gerüche wahrzunehmen, ist keineswegs eine Freude, sondern eine Last. Es roch in der Kinkelschen Wohnung nach Fleischbrühe, als hätten sie einen ganzen Ochsen gekocht. Das Gezische im Hintergrund klang lebensgefährlich, als würde der Sohn den Vater oder die Mutter den Sohn umbringen. Ich dachte an Laokoon, und
    daß dieses Gezische und Gekeife - ich konnte sogar Geräusche eines Handgemenges hören, Aus und Ahs, Ausrufe wie »du ekelhaftes Biest«, »Du brutales Schwein« - in der Wohnung dessen stattfand, der als die »graue Eminenz des deutschen
    Katholizismus« bezeichnet wurde, trug nicht zu meiner Erheiterung bei. Ich dachte auch an den miesen Kostert in Bochum, der sich noch gestern abend ans Telefon
    gehängt und seinen Text durchtelefoniert haben mußte, und doch hatte er heute
    morgen an meiner Zimmertür wie ein demütiger Köter gekratzt und den christlichen Bruder gespielt.
    Kinkel sträubte sich offenbar buchstäblich mit Händen und Füßen, ans Telefon zu kommen, und seine Frau - ich konnte die Geräusche und Bewegungen im
    Hintergrund allmählich entziffern - war noch heftiger dagegen als er, während der Sohn sich weigerte, mir zu sagen, er habe sich getäuscht, sein

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