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Ansichten eines Clowns

Ansichten eines Clowns

Titel: Ansichten eines Clowns Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heinrich Böll
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Vater sei nicht zu Hause.
    Plötzlich wurde es vollkommen still, so still wie es ist, wenn jemand verblutet, wirklich : es war eine verblutende Stille. Dann hörte ich schleppende Schritte, hörte, wie einer den Hörer vom Tisch nahm, und rechnete damit, daß der Hörer aufgelegt würde. Ich wußte noch genau, wo das Telefon in Kinkels Wohnung steht. Genau unter der von drei Barockmadonnen, die Kinkel immer als die minderwertigste bezeichnet. Mir
    wäre fast lieber gewesen, er hätte aufgelegt. Ich hatte Mitleid mit ihm, es mußte fürchterlich für ihn sein, jetzt mit mir zu sprechen, und für mich selbst erhoffte ich nichts von diesem Gespräch,
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    weder Geld noch guten Rat. Wäre seine Stimme außer Atem gewesen, hätte mein
    Mitleid überwogen, aber seine Stimme war so dröhnend und vital wie je. Jemand hat mal seine Stimme mit einem ganzen Trompeterkorps verglichen.
    »Hallo, Schnier«, dröhnte es mir entgegen »reizend, daß Sie anrufen.«
    »Hallo, Doktor«, sagte ich, »ich bin in einer Klemme.«
    Das einzig Bösartige an meinen Worten war das Doktor, denn sein Doktor ist, wie der von Papa, ein nagelneuer h. c.
    »Schnier«, sagte er, »stehen wir so miteinander, daß Sie glauben, mich mit Herr Doktor anreden zu müssen?«
    »Ich habe keine Ahnung, wie wir miteinander stehen«, sagte ich.
    Er lachte besonders dröhnend: vital, katholisch, offen, mit »barocker Heiterkeit«. -
    »Meine Sympathien für Sie sind unverändert die gleichen.« Es fiel mir schwer, das zu glauben. Wahrscheinlich war ich für ihn schon so tief gefallen, daß es sich nicht mehr lohnte, mich noch tiefer fallen zu lassen.
    »Sie sind in einer Krise«, sagte er, »nichts weiter, Sie sind noch jung, reißen Sie sich zusammen, und es wird wieder werden.« Zusammenreißen, das klang nach
    Annas I. R. 9.
    »Wovon sprechen Sie?« fragte ich mit sanfter Stimme.
    »Wovon soll ich sprechen«, sagte er, »von Ihrer Kunst, Ihrer Karriere.«
    »Aber das meine ich gar nicht«, sagte ich, »ich spreche, wie Sie wissen,
    grundsätzlich nicht über Kunst, und über Karriere schon gar nicht. Ich meine - ich will - ich suche Marie«, sagte ich.
    Er stieß einen nicht genau definierbaren Ton aus, der zwischen Grunzen und
    Rülpsen lag. Ich hörte im Hintergrund des Zimmers noch Restgezische, hörte, wie Kinkel den Hörer auf den Tisch legte, wieder aufnahm, seine Stimme war kleiner und dunkler, er hatte sich eine Zigarre in den Mund gesteckt.
    »Schnier«, sagte er, »lassen Sie doch das Vergangene vergangen sein. Ihre
    Gegenwart ist die Kunst.«
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    »Vergangen?« fragte ich, »versuchen Sie sich doch vorzustellen, Ihre Frau ginge plötzlich zu einem anderen.«
    Er schwieg auf eine Weise, die mir auszudrücken schien: täte sie es doch, sagte dann, an seiner Zigarre herumschmatzend: »Sie war nicht Ihre Frau, und Sie haben nicht sieben Kinder miteinander.«
    »So«, sagte ich, »sie war nicht meine Frau?«
    »Ach«, sagte er, »dieser romantische Anarchismus. Seien Sie ein Mann.«
    »Verflucht«, sagte ich, »gerade , weil ich diesem Geschlecht angehöre, ist die Sache schlimm für mich - und die sieben Kinder können ja noch kommen. Marie ist erst fünfundzwanzig.«
    »Unter einem Mann«, sagte er, »verstehe ich jemand, der sich abfindet.«
    »Das klingt sehr christlich«, sagte ich.
    »Gott, ausgerechnet Sie wollen mir wohl sagen, was christlich ist.«
    »Ja«, sagte ich, »soweit ich unterrichtet bin, spenden sich nach katholischer
    Auffassung die Eheleute gegenseitig das Sakrament?«
    »Natürlich«, sagte er.
    »Und wenn sie doppelt und dreifach standesamtlich und kirchlich verheiratet sind und spenden sich das Sakrament nicht - ist die Ehe nicht existent.«
    »Hm«, machte er.
    »Hören Sie, Doktor«, sagte ich, »würde es Ihnen etwas ausmachen, die Zigarre aus dem Mund zu nehmen. Das Ganze klingt, als sprächen wir über Aktienkurse. Ihr
    Schmatzen macht mir die Sache irgendwie peinlich.«
    »Na, hören Sie«, sagte er, aber er nahm die Zigarre aus dem Mund, »und merken Sie sich, wie Sie über die Sache denken, ist Ihre Sache. Fräulein Derkum denkt offenbar anders darüber und handelt so, wie ihr Gewissen es ihr befiehlt. Genau richtig - kann ich nur sagen.«
    »Warum sagt mir dann keiner von euch ekelhaften Katholiken, wo sie ist? Ihr
    versteckt sie vor mir.«
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    »Machen Sie sich doch nicht lächerlich, Schnier«, sagte er, »wir leben nicht mehr im Mittelalter.«
    »Ich wünschte, wir lebten im Mittelalter«, sagte ich, »dann wäre

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