Ansichten eines Clowns
»Was wäre unsere gute alte, so fromme Stadt ohne Herrn Derkum.« Das ärgerte mich wieder, denn der alte Derkum hatte mir erzählt, daß Sommerwild versucht hatte, die Kinder der katholischen Schule, die immer noch bei ihm Bonbons und Bleistifte kaufen, vor ihm zu warnen. Ich sagte:
»Ohne Herrn Derkum wäre unsere gute alte, so fromme Stadt noch dreckiger, er ist wenigstens kein Heuchler.« Kinkel warf mir einen erstaunten Blick zu, hob sein Glas und sagte: »Danke, Herr Schnier, Sie geben mir das Stichwort für einen guten Toast: Trinken wir auf das Wohl von Martin Derkum.« Ich sagte: »Ja, auf sein Wohl mit Freuden.« Und Frau Kinkel sprach wieder mit den Augen zu ihrem Mann: Er ist nicht nur jung und ungezogen - auch unverschämt. Ich habe nie verstanden, daß Kinkel später immer diesen »ersten Abend mit Ihnen« als den nettesten bezeichnet hat. Kurz drauf kamen Fredebeul, seine Braut, Monika Silvs und ein gewisser von Severn, von dem, bevor er kam, gesagt wurde, daß er »zwar eben konvertiert sei, aber der SPD
nahestehe«, was offenbar als himmelstürmende Sensation angesehen wurde. Ich sah auch Fredebeul an diesem Abend zum erstenmal, und es ging mir mit ihm wie mit fast allen: ich war ihnen trotz allem sympathisch, und sie waren mir alle trotz allem unsympathisch, außer Fredebeuls Braut und Monika Silvs; von Severn war mir
weder das eine noch das andere. Er war langweilig und schien fest entschlossen, sich auf der sensationellen Tatsache, Konvertit und SPD-Mitglied zu sein, endgültig auszuruhen; er lächelte, war freundlich, und doch schienen seine etwas vorstehenden Augen ständig zu sagen: Seht mich an, ich
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bins! Ich fand ihn gar nicht übel. Fredebeul war sehr jovial zu mir, er sprach fast eine Dreiviertelstunde über Beckett und Ionesco, rasselte lauter Zeug herunter, von dem ich merkte, daß ers zusammengelesen hatte, und sein glattes hübsches Gesicht mit dem überraschend breiten Mund strahlte vor Wohlwollen, als ich dummerweise
bekannte, Beckett gelesen zu haben; alles, was er sagt, kommt mir immer so bekannt vor, als ob ichs schon irgendwo gelesen hätte. Kinkel strahlte ihn bewundernd an, und Sommerwild blickte um sich, mit den Augen sprechend: Was, wir Katholiken
sind nicht hinterm Mond. Das alles war vor dem Gebet. Es war Frau Kinkel, die
sagte: »Ich glaube, Odilo, wir können das Gebet sprechen. Heribert kommt wohl
heute nicht« - sie blickten alle auf Marie, dann viel zu plötzlich von ihr weg, aber ich kapierte nicht, warum wieder so ein peinliches Schweigen entstand - erst in
Hannover im Hotelzimmer wußte ich plötzlich, daß Heribert Züpfners Vorname ist.
Er kam doch noch später, nach dem Gebet, als sie mitten im Thema des Abends waren, und ich fand es sehr lieb, wie Marie sofort, als er reinkam, auf ihn zuging, ihn ansah und eine hilflose Schulterbewegung machte, bevor Züpfner die anderen begrüßte
und sich lächelnd neben mich setzte. Sommerwild erzählte dann die Geschichte von dem katholischen Schriftsteller, der lange mit einer geschiedenen Frau zusammen-lebte, und als er sie dann heiratete, sagte ein hoher Prälat zu ihm: »Aber mein lieber Besewitz, konnten Sies denn nicht beim Konkubinat belassen?« Sie lachten alle
ziemlich ausgelassen über diese Geschichte, besonders Frau Kinkel auf eine fast schon obszöne Weise. Der einzige, der nicht lachte, war Züpfner, und ich hatte ihn gern deswegen. Auch Marie lachte nicht. Sicher erzählte Sommerwild diese Geschichte, um mir zu zeigen, wie großherzig, warm, wie witzig und farbig die katholische Kirche sei; daß ich mit Marie auch sozusagen im Konkubinat lebte, daran dachten sie nicht.
Ich erzählte ihnen die Geschichte von dem Arbeiter, der ganz in unserer Nähe gelebt hatte; er hieß Frehlingen und hatte in
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seinem Siedlungshäuschen auch mit einer geschiedenen Frau zusammengelebt, deren drei Kinder er sogar ernährte. Zu Frehlingen war eines Tages der Pfarrer gekommen und hatte ihn mit ernster Miene und unter gewissen Drohungen aufgefordert, »dem unsittlichen Treiben ein Ende zu setzen«, und Frehlingen, der ziemlich fromm war, hatte die hübsche Frau mit ihren drei Kindern tatsächlich fortgeschickt. Ich erzählte auch, wie die Frau nachher auf den Strich ging, um die Kinder zu ernähren, und wie Frehlingen ans Saufen gekommen war, weil er sie wirklich gern hatte. Es entstand wieder so ein peinliches Schweigen, wie immer, wenn ich etwas sagte, aber
Sommerwild lachte und sagte: »Aber Herr Schnier,
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