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Ansichten Eines Clowns

Ansichten Eines Clowns

Titel: Ansichten Eines Clowns Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heinrich Boll , Heinrich Böll
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Flur und »regelte« die Sache mit dem Schaffner, bevor die Oma auf ihren Irrtum aufmerksam gemacht wurde. Marie fragte vorher immer, wie weit sie denn fahre, und wer denn gestorben sei - damit sie den Aufschlag auch richtig lösen konnte. Die Kommentare der Großmütter bestanden meistens in den liebenswürdigen Worten: »Die Jugend ist gar nicht so schlecht, wie sie immer gemacht wird«, das Honorar in gewaltigen Schinkenbroten. Besonders zwischen Dortmund und Hannover - so kam es mir immer vor - sind täglich viele Großmütter zu Beerdigungen unterwegs. Marie schämte sich immer, daß wir Erster fuhren, und es wäre ihr unerträglich gewesen, wenn jemand aus unserem Abteil hinausgeworfen worden wäre, weil er nur Zweiter gelöst hatte. Sie hatte eine unerschöpfliche Geduld beim Anhören sehr umständlicher Schilderungen von Verwandtschaftsverhältnissen und beim Anschauen von Fotos wildfremder Menschen. Einmal saßen wir zwei Stunden lang neben einer alten Bückeburger Bäuerin, die dreiundzwanzig Enkelkinder hatte und von jedem ein Foto bei sich trug, und wir hörten uns dreiundzwanzig Lebensläufe an, sahen dreiundzwanzig Fotos von jungen Männern und jungen Frauen, die es alle zu etwas gebracht hatten: Stadtinspektor in Münster, oder verheiratet mit einem Bahnbetriebsassistenten, Leiter eines Sägewerks, und ein anderer war »hauptamtlich in dieser Partei, die wir immer
    wählen — Sie wissen schon«, und von einem weiteren, der bei der Bundeswehr war,
    sie, der »wäre schon immer für das ganz Sichere« gewesen. Marie war immer ganz in diesen Geschichten drin, fand sie ungeheuer spannend und sprach vom »wahren Leben«, mich ermüdete das Element der Wiederholung in dieser Form. Es gab soviele Großmütter zwischen Dortmund und Hannover, deren Enkel Bahnassistenten waren, und deren Schwiegertöchter frühzeitig starben, weil sie »die Kinder nicht mehr alle zur Welt bringen, die Frauen heutzutage - das ist es«. Marie konnte sehr lieb sein und nett zu alten und hilfsbedürftigen Leuten; sie half ihnen auch bei jeder Gelegenheit beim Telefonieren. Ich sagte ihr einmal, sie hätte eigentlich zur Bahnhofsmission gehen sollen, und sie sagte etwas pikiert: »Warum nicht?« Ich hatte es gar nicht böse oder abfällig gemeint. Nun war sie ja in einer Art Bahnhofsmission, ich glaube, daß Züpfner sie geheiratet hat, um sie zu »retten«, sie ihn, um ihn zu »retten«, und ich war nicht sicher, ob er ihr erlauben würde, von seinem Geld Großmüttern D-Zug-Zuschlä- ge und den Übergang in die erste Klasse zu bezahlen. Er war bestimmt nicht geizig, aber auf eine so aufreibende Art bedürfnislos wie Leo. Er war nicht bedürfnislos wie Franz von Assisi, der sich die Bedürfnisse anderer Menschen vorstellen konnte, obwohl er selbst auch bedürfnislos war. Die Vorstellung, daß Marie jetzt Züpfners Geld in ihrer Handtasche hatte, war mir unerträglich, wie das Wort Flitterwochen und die Idee, ich könnte um Marie kämpfen. Kämpfen konnte doch nur körperlich gemeint sein. Selbst als schlecht trainierter Clown war ich sowohl Züpfner wie Sommerwild überlegen. Bevor sie sich auch nur in Positur gestellt hätten, hätte ich schon drei Purzelbäume geschlagen, mich von hinten an sie herangemacht, sie aufs Kreuz gelegt und in den Schwitzkasten genommen. Oder dachten sie etwa an regelrechte Schlä- gereien. Solch perverse Varianten der Nibelungensage waren ihnen zuzutrauen. Oder meinten sie's geistig? Ich hatte keine Angst vor ihnen, und warum hatte Marie meine Briefe, die ja eine Art geistigen Kampfes ankündigten, nicht beantworten dürfen? Sie
    nahmen Worte wie Hochzeitsreise und Flit-
    terwochen in den Mund und wollten mich obszön nennen, diese Heuchler. Sie sollten sich nur einmal anhören, was Kellner und Zimmermädchen sich von Flitterwochen und Hochzeitsreisenden erzählen. Da flüstert doch jeder miese Vogel im Zug, im Hotel, wo sie sich auch zeigen, hinter ihnen her »Flitterwochen«, und jedes Kind weiß, daß sie die Sache dauernd machen. Wer zieht die Wäsche vom Bett und wäscht sie? Wenn sie Züpfner die Hände auf die Schulter legt, muß ihr doch einfallen, wie ich ihre eiskalten Hände unter meinen Achseln gewärmt habe.

    Ihre Hände, mit denen sie die Haustür öffnet, der kleinen Marie oben die Bettdecke geradezieht, in der Küche unten den Toaster einstöpselt, Wasser aufsetzt, eine Zigarette aus der Packung nimmt. Den Zettel des Mädchens findet sie diesmal nicht auf dem Küchentisch, sondern auf

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