Anständig essen
Verantwortung dafür abnehmen, selbst zu entscheiden, was gut und was böse war. Leute wie ich, die eigentlich wussten, was los war, die das Grauen sahen, aber nicht sehen wollten und aus Gedankenlosigkeit und bereitwilliger Selbsttäuschung einfach so weiterkauften, wie sie es schon immer getan hatten, machten industrialisierte Massentierhaltung erst möglich.
Nun gut, das Jahr ging sowieso gerade zu Ende. Es war der passende Zeitpunkt für gute Vorsätze. Vom ersten Januar an würde ich aus meinen alten Kaufgewohnheiten aussteigen und mich nur noch meiner Überzeugung entsprechend ernähren. Doch was war eigentlich meine Überzeugung? Beziehungsweise, was war ein Schnitzel für mich? Ein Zeichen von Esskultur und Lebenslust und völlig okay, wenn es vom Bio-Tier kam? Aber auch Bio-Schweine wurden nicht totgestreichelt. Hätte ich im Grunde längst Vegetarierin sein müssen? Und Frutarier – waren das allesamt Witzfiguren oder fand ich sie bloß lächerlich, weil ich nicht über meinen Tellerrand hinaus denken konnte und meine ausgeprägten Gewohnheiten für das Maß aller Dinge hielt? »Urteile nie über einen anderen, bevor du nicht einen Mond lang in seinen Mokassins gegangen bist«, lautete eine alte Weisheit der Indianer.
»… der indigenen Bevölkerung Amerikas!«, hätte Jiminy mich verbessert, wenn sie anwesend gewesen wäre. Egal, wahrscheinlich stammte der auf zig Kirchentagen abgenudelte Spruch sowieso von einem Deutschlehrer im ersten Referendariatsjahr. Jedenfalls wusste ich plötzlich, was ich tun wollte – ich würde die verschiedenen Ernährungsweisen einfach ausprobieren. Je einen Mond lang würde ich in den Mokassins einer Bio-Lebensmittel-Konsumentin, einer Vegetarierin, einer Veganerin und einer Frutarierin gehen. Nein, lieber gleich zwei Monate. Es braucht drei bis sechs Wochen, um eine neue Gewohnheit im Stammhirn zu verankern. Natürlich hätte ich mir die Ansichten und Argumente der Vegetarier, Veganer und Frutarier auch einfach in einem Buch durchlesen können – aber was wäre das für ein Wissen? Ich hätte mich wie ein Tourist benommen, der mal eben für drei Stunden von Bord seines Kreuzfahrtschiffes springt und hinterher behauptet, Thailand würde er jetzt auch kennen. Um die mir fremde Kultur der Vegetarier, Veganer und Frutarier wirklich zu verstehen, musste ich Teil ihrer Kultur werden, mich nicht nur entsprechend ernähren, sondern auch mit der jeweiligen Lebensanschauung beschäftigen und sie nach außen vertreten. Die zwei Monate jeweils sollten genügen, um mich neu zu konditionieren. Am Ende dieses Selbstversuchs würde ich mich dann bestens informiert und vor dem Hintergrund, jede Ernährungsweise einmal emotional nachvollzogen zu haben, entscheiden können, wie ich von nun an essen wollte. Und damit ich nicht etwa auf halbem Wege schwächelte, würde ich ein Buch darüber schreiben.
Am nächsten Tag rufe ich meinen Verleger, Wolfgang Hörner, an. Er freut sich, meine Stimme zu hören. Vielleicht denkt er, ich wolle ihm mitteilen, dass ich endlich den Roman angefangen habe, für den er bereits vor anderthalb Jahren einen Vorschuss bezahlt hat. Ich erkläre ihm, warum dieses Buch viel wichtiger ist.
»Ich muss es jetzt schreiben. Ich kann das nicht verschieben.«
Wolfgang Hörner bleibt gefasst. Er findet die Idee gar nicht mal so schlecht, hate sie allerdings auch nicht ganz verstanden.
»Du solltest die Bio-Ernährung auf den März schieben und das Jahr damit beginnen, erst einmal den Alkohol wegzulassen«, schlägt er vor. Sofort frage ich mich, was er über meinen Alkoholkonsum zu wissen glaubt.
»Ach«, sage ich, »meinst du? Aus was für einem Tier, denkst du, wird denn Alkohol gewonnen? Vielleicht aus dem Alkofanten? Oder dem großen Riesen-Alk? Und werden die beim Auspressen sehr gequält?«
»Um Askese geht es doch gar nicht«, sage ich. »Ich will mir nicht künstlich das Leben schwer machen, sondern bloß ein besserer Mensch werden. Wie viel ich saufe, ist ja wohl meine Sache.«
Merkwürdigerweise versteht mich auch mein Hausarzt erst einmal grundfalsch. Nach einem Blick auf meinen Körper legt er sofort los, dass Ernährung sowieso sein Spezialgebiet sei.
»Allerdings bin ich fest davon überzeugt, dass nicht ein und dieselbe Diät für alle Menschen gleich gut ist, sondern dass für jeden einzelnen eine individuelle, genau auf ihn abgestimmte Ernährungsweise gefunden werden muss. Leider sind wir nun einmal oft in Versuchung, Dinge zu essen, die uns
Weitere Kostenlose Bücher