Anständig essen
erklären konnte.
Und ich selber? Ich kriegte es aus lauter Gedankenlosigkeit ja noch nicht einmal auf die Reihe, wenigstens so ein scheinglückliches Tier zu erwerben. Dabei galt ich weit und breit als großer Tierfreund. Für Bullis Operationen und seine Chemotherapie hatte ich ohne mit der Wimper zu zucken bereits mehrere Monatsgehälter hingelegt, und auf Familienfeiern wurde immer wieder gern erzählt, wie ich als Erstklässlerin einmal heulend und tobend aus dem Religionsunterricht gelaufen war, weil meine Klassenlehrerin Frau Meyer-Arndt gesagt hatte, Tiere kämen nicht in den Himmel. Wenn die nicht in den Himmel durften, so hatte ich gewütet, dann würde ich da auch nicht hingehen, sondern dahin, wo die Tiere hinkämen. Und trotzdem hätte ich ohne Jiminys Eingreifen wieder die Hähnchenpfanne gekauft, deren Inhalt in seinem freudlosen, nur fünf Wochen dauernden Leben wahrscheinlich nicht einen einzigen Sonnenstrahl gesehen hatte.
Ich versuchte mir vorzustellen, was für ein Monstrum ich in den Augen eines Frutariers sein musste. Und dann ging mir das Eigentliche auf. Was die Frutarierin aus dem Film »Notting Hill« von mir unterschied, war nicht, dass unsere Ernähungsweisen auf verschiedenen Wertvorstellungen beruhten. Nein, der eigentliche Unterschied war, dass die Frutarierin eine moralische Entscheidung getroffen hatte, nach der sie ihre Ernährung ausrichtete, während ich mir überhaupt keine Rechenschaft über mein Tun ablegte. Oh Gott, ich war tatsächlich Pinocchio – eine gierige, selbstsüchtige Holzmarionette ohne Gewissen. Und ich konnte mich noch nicht einmal damit herausreden, ich wäre schlecht informiert. Bereits in meiner 70er-Jahre-Kindheit waren Horst Sterns gesellschaftskritische Tier-Dokumentationen »Sterns Stunde« oder »Bemerkungen über das Huhn/Rind/Schwein« zur besten Sendezeit im Fernsehen gelaufen. Seitdem wusste ich, dass ein Huhn ein Lauftier war und nicht in den Käfig gehörte, dass ein Kalb nicht mutterlos in dunkler Einzelhaft stehen sollte und Schweine nicht eng aneinandergequetscht auf Spaltenböden. Und wenn ich im Fernsehen oder in einer Illustrierten Horrorbilder aus Mastbetrieben sah, war mir durchaus klar, dass es sich nicht um die Verbrechen einzelner krimineller Subjekte und skrupelloser Sadisten handelte, die das Tierschutzgesetz brachen, sondern um die übliche Vorgehensweise guter Staatsbürger, die innerhalb erlaubter Grenzen ihren Profit maximierten. Das machte es ja so unerträglich: dass die Grausamkeit nicht als Grausamkeit geächtet wurde, sondern innerhalb der Norm stattfand.Meiner Meinung nach war es Aufgabe des Staates, hier Abhilfe zu schaffen. Eine schon 1997 veröffentlichte Umfrage der Zeitschrift »Brigitte« hatte ergeben, dass 92,3 % der Verbraucher dafür waren, nicht artgerechte Massentierhaltung ausnahmslos zu verbieten. Was die meisten nicht davon abhielt, weiterhin große Mengen Fleisch und Wurst aus genau dieser Haltungsform zu kaufen. Eine derart wichtige ethische Frage durfte eben nicht durch den Geldbeutel entschieden werden. Wer hat schon Lust, jedes Mal darüber nachdenken zu müssen, ob er gerade ein Verbrechen unterstützt, wenn er bloß fürs Mittagessen einkaufen will. In einem zivilisierten Land sollte man sich doch eigentlich darauf verlassen dürfen, dass die Kontrolle der Produktionsbedingungen bereits erledigt ist, bevor das Fleisch in den Supermarkt gelangt – wie ich ja auch mehr oder weniger gedankenlos die Verkehrsregeln befolgen kann, ohne mich bei jedem einzelnen Straßenschild fragen zu müssen, ob es eigentlich ethisch vertretbar ist, dessen Gebot zu befolgen. Allerdings wurden die Zustände in den Schlacht- und Mastbetrieben ja durchaus kontrolliert. Nur so, wie es aussah, lebte ich in einem Staat, dessen politische Entscheidungsträger einen Grad von Tierquälerei tolerierten, der für mich nicht akzeptabel war. Der Staat und ich, wir hatten einfach sehr unterschiedliche Standards, was man einem Schwein, Rind oder Huhn zumuten durfte. Je länger ich darüber nachdachte, desto fassungsloser stand ich vor der großen Diskrepanz zwischen dem, was ich wusste, und dem, wie ich bisher eingekauft hatte. Was war ich bloß für eine Pfeife! Es mochte ja vielleicht hingehen, im Straßenverkehr seine Autorität abzugeben und um des lieben Friedens willen Strafzettel zu bezahlen und Regeln zu befolgen, deren Sinn und Nutzen sich einem beim besten Willen nichterschlossen. Aber kein Staat der Welt konnte mir die
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