Anthropofiction
sind – Tausende von Sprachen und Dialekten, die wechselseitig unverständlich sind; viele verschiedene Wertmaßstäbe und Denkweisen über sie; viele verschiedene Voraussetzungen der Kultur, des Aberglaubens und religiöser Überzeugungen; hohe Bildung und bares Analphabetentum; überquellender Reichtum und hoffnungsloses Elend; roher Nationalstolz; widerstreitende nationale Interessen und ererbte nationale Haßgefühle, verschärft durch Jahrhunderte der Auswanderung, Aggression und Eroberung.
Im Durchschnitt haben diese unterschiedlichen Gruppen trotz aller Konfrontationen in ihren eigenen unter schiedlichen Welten gelebt, wo sie ihre getrennten We ge gehen, ihre eigenen Kulturen aufbauen und ihre eige nen Fehler machen konnten. Jetzt haben Übervölkerung und Mobilität, die die Wissenschaft uns beschert hat, diese getrennten Welten im Laufe nur weniger Jahre zusammengezwungen, so daß sie, wie ungern auch im mer, untrennbare Bestandteile derselben Welt gewor den sind. Heute erstreckt sich die Umwelt jedes lebenden Menschen über den gesamten Globus, und das Überleben eines jeden ist in die Gedanken und Handlungen anderer Menschen auf der entgegengesetzten Halbku gel der Erde eingebaut. Die Bevölkerung vieler ärmerer Nationen wächst derart an, daß sie die Kapazität ihres Landes, sie zu ernähren, übersteigt Ihre Fehler werden zu den Sorgen ihrer Nachbarn, und sie selbst werden zum gefährlichen Pfand in der Konfrontation der stärkeren Mächte (Storer, 1968:123).
Aber wie kann man den Menschen klarmachen, daß kulturelle Verschiedenheit, wenn sie zu eng zusammengedrängt ist, eine Gefahr sein kann?
Der erste Schritt ist offenbar, mehr Menschen, besonders Politikern, die anthropologische Auffassung vom Menschen beizubringen, die behauptet, daß die verschiedenen Kulturen des Menschen sämtlich vollgültige Arten der Menschlichkeit sind. Anthropologen müssen nicht an den dogmatischen Inhalt beispielswei se des tibetanischen Lamaismus glauben, um zu begrei fen, daß die tibetanische Religion in gewisser Weise die Funktion übernimmt, die Gemeinschaft der tibetani schen Kultur zum Wohl ihrer Mitglieder zusammenzuhalten.
Arthur C. Clarke erkennt in einer Story »Die neun Milliarden Namen Gottes« die kulturelle Gültigkeit des tibetanischen Lamaismus an, indem er einem Punkt des Dogmas wörtliche Glaubwürdigkeit zuspricht. Der Schluß der Geschichte dramatisiert die Tatsache, daß kulturelle Unterschiede Konsequenzen für andere haben.
Genau solche Konsequenzen sind es, die wir begrei fen müssen. Aber ein Bewußtsein der kulturellen Dimension der Menschen ist nicht leicht zu erwerben, da es unerwartete Schrecken birgt.
Das Warten
Das faktische Ereignis, das das Warten in Kit Reeds Geschichte begründet, scheint einer Beobachtung Herodots entnommen zu sein, die er über eine babylonische Sitte angestellt hat.
Es gibt bei diesem Volk eine Sitte, die gänzlich schamlos ist: jede im Lande geborene Frau muß einmal im Leben in den Tempel der Aphrodite gehen und sich einem fremden Mann hingeben. Viele reiche Frauen, zu stolz, sich mit den übrigen gemein zu machen, fahren in geschlossenen Wagen mit einem ganzen Heer nachfolgender Diener zum Tempel und warten dort; die meisten jedoch sitzen im Tempelbezirk mit einem geflochtenen Band um den Kopf – und sie sind sehr zahlreich; die einen sitzen herum, andere kommen an, wieder andere gehen weg – und zwischen ihnen sind überall Gänge markiert, damit die Männer in allen Richtungen vorbeigehen und ihre Wahl treffen können. Wenn eine Frau einmal ihren Platz eingenommen hat, darf sie nicht nach Hause gehen, bis ein Mann … sie herausgeholt hat, um ihr beizuschlafen (de Selincourt, 1954:94).
Zweifellos diente diese Sitte dazu, jeden Babylonier mit einer gemeinsamen Erfahrung zu versehen und so ein Minimum an Gemeinschaftssinn inmitten des verschiedenartigen Stadtlebens zu erzeugen.
Aber jedenfalls ist es sicher unangemessen, diese Sitte im Zentrum einer amerikanischen Kleinstadt anzusiedeln. Doch nur allmählich begreift Miriam, daß etwas Seltsames vorgeht. Sowie die Seltsamkeit offenkundiger wird, wird sie weiterer Einzelheiten gewahr. Normalerweise spielen sich die Sitten und Bräuche unseres Lebens unterhalb unserer bewußten Wahrnehmung ab.
Miriams Gewahrwerden des Neuen und Andersartigen ist dem Feingefühl für fremde Sitten, auf die der Anthropologe bei der ethnographischen Feldforschung trifft, verwandt. Als Außenseiter
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