Anti Freud - die Psychoanalyse wird entzaubert
Anspruch. Einfacher ausgedrückt: Er nahm den eigenen Fall für allgemeingültig.
Freuds umfangreiche Korrespondenz mit Wilhelm Fließ wurde lange unter Verschluss gehalten und zunächst nur auszugsweise veröffentlicht. Dabei wurden die Passagen mit abseitigen theoretischen Positionen weggelassen. Zeigen ihn die Ansichtskarten als experimentell arbeitenden Wissenschaftler, der gar nicht anders kann, als große Entdeckungen zu machen, weil er fest davon überzeugt ist, zu Großem bestimmt zu sein, so offenbart die Korrespondenz einen ganz anderen Freud.
In ihr begegnen wir einem Freud, der strauchelt, zögert, heute dies und morgen das Gegenteil behauptet, einmal von einer wissenschaftlichen Psychologie überzeugt ist und ein anderes Mal
bekundet, die gestern noch geniale und revolutionäre Entdeckung sei ein sinnloses Unterfangen. Wir sehen einen auf den eigenen Körper fixierten Freud, der sich über seine Furunkel, Hoden und wiederkehrenden Migräneanfälle Gedanken macht, über Herzmuskelentzündung genau wie über die fürchterliche Nikotinsucht, über sexuelles Versagen und Verdauungsstörungen, über Neurose und Missstimmung, über Alkohol und Kokain – an das er sich immer mehr gewöhnt –, über seine Phobie vor Zügen, seine Angst, nicht genügend zu essen zu haben, seine Furcht vor dem Tod und seinen krankhaften Aberglauben.
Auch Freuds zwanghaftes Streben nach Erfolg, Geld und Ruhm ist hier erkennbar; es frisst täglich an seiner Seele. Was soll er nur tun, um ein berühmter Wissenschaftler zu werden? Am 12. Juni 1900 schreibt er an Fließ: »Glaubst Du eigentlich, daß an dem Hause dereinst auf einer Marmortafel zu lesen sein wird: ›Hier enthüllte sich am 24. Juli 1895 dem Dr. Sigm. Freud das Geheimnis des Traumes.‹« ( Briefe 1873–1939, S. 254) Hier zeigt sich zweierlei: Zum einen der Traum vom Berühmtsein, der ihn antreibt, und zum anderen die Vorstellung, seine Theorien verdankten sich einer Enthüllung – und nicht der Lektüre, Arbeit und Überlegung, der Beschäftigung mit den Hypothesen anderer Forscher, der kritischen Aneignung der themenbezogenen Literatur, der Deduktion, klinischen Beobachtungen und dem geduldigen Zusammentragen experimenteller Ergebnisse.
So wird der methodologische Imperativ verständlich, der dem ersten Autodafé von 1885 zugrunde liegt: Freud will alles auslöschen, was auf die historische Entstehung seines Werks hinweist; er will jede Möglichkeit einer disziplinimmanenten Genealogie verhindern und alle Versionen außer der von ihm gewollten und oktroyierten verbieten – nämlich dass es sich bei seiner Theoriebildung nicht um eine historische Entwicklung, sondern um eine sagenhafte Epiphanie gehandelt habe. Wie oft in solchen Fällen beginnt das Märchen mit einer wundersamen Geburt. Die Psychoanalyse? Sie stammt aus dem Schenkel eines Jupiters namens
Sigmund Freud, kam voll bewaffnet mit Schutzhelm zur Welt und funkelte und glitzerte in der Sonne des Wiener Fin de Siècle.
Sein Wunsch, biographische Nachforschungen hinter den Kulissen zu vermeiden, führte Freud zu einer Theorie über die Unmöglichkeit von Biographien. Nachdem er sich im Brief an Arnold Zweig über die Schwierigkeit amüsiert hatte, vor die er zukünftige Biographen stellen würde, postulierte er in eigener Sache: »Wer Biograph wird, verpflichtet sich zur Lüge, zur Verheimlichung, Heuchelei, Schönfärberei und selbst zur Verhehlung seines Unverständnisses, denn die biographische Wahrheit ist nicht zu haben, und wenn man sie hätte, wäre sie nicht zu brauchen.« (31. Mai 1936, Freud/Zweig, Briefwechsel, S. 137) Damit ist es gesagt: Eine Biographie ist per se ein Ding der Unmöglichkeit, und somit kann sie auch faktisch unmöglich gemacht werden! Bemerkenswert ist zudem die Zweideutigkeit. Eine Biographie ist unmöglich, und wäre sie es nicht, könnte man ohnehin nichts mit ihr anfangen. Doch weshalb nicht? Verzichtete Freud selbst im Fall Präsident Wilsons, über den er gemeinsam mit William Bullit eine psychoanalytische Studie verfasste, etwa auf das Abenteuer Biographie?
Niemand zweifelt daran, dass Biographen eine besondere Beziehung zu ihren Protagonisten haben; dass ein Leben komplex und verwickelt ist; dass tatsächlich viel verschleiert und verwischt wird; dass manche noch zu Lebzeiten an der eigenen Legende arbeiten, um ihre Geschichte zu beschönigen; dass Berichte von Überlebenden aus Träumen, Wünschen und veränderten Erinnerungen gesponnen sind; dass auch
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