Anti Freud - die Psychoanalyse wird entzaubert
Wie seltsam, die Bücher eines Philosophen zu kaufen, den man nicht lesen wird, um nicht von ihm beeinflusst zu werden! Er berichtete seinem Freund: »Ich habe mir jetzt den Nietzsche beigelegt, in dem ich die Worte für vieles, was in mir stumm bleibt, zu finden hoffe, aber ihn noch nicht aufgeschlagen. Vorläufig zu träge.« ( Briefe an Wilhelm Fließ, S. 438)
Am 28. Juni 1931, als er den größten Teil seines Werks bereits verfasst hatte, schrieb Freud an Lothar Bickel, er habe sich die Nietzsche-Lektüre versagt, obwohl oder gar weil er dort Einsichten vermutete, die jenen der Psychoanalyse ähnelten. Damit wir es recht verstehen: Der Philosoph hat Intuitionen, der Psychoanalytiker Beweise. Das ist Freuds Verteidigungsstrategie, wenn er die Philosophie kritisiert. In dieser kleinen Welt, mit der er als Mediziner nichts zu tun hat, lebt man im Ideenhimmel, verbreitet Postulate, Unbewiesenes, Behauptungen, man entwickelt Konzepte, ohne sich um deren Wahrscheinlichkeit zu sorgen. Die Psychoanalyse dagegen geht anders vor. Basierend auf Beobachtungen, Untersuchungen, Fallabgleichung und wissenschaftlicher Deduktion produziert sie unzweifelhafte Wahrheiten.
Nach Meinung Freuds hatte Nietzsche lediglich Intuitionen, während er selbst sich in einem wissenschaftlichen Kontext bewegte, innerhalb dessen bewiesene Fakten galten. Wir werden noch sehen, dass es keinen schlechteren Philosophen gibt als jenen, der keiner sein will und sich für einen Wissenschaftler hält – der, um sein Lügengerüst aufrechtzuerhalten, Ergebnisse fälscht, Schlussfolgerungen erfindet und die Zahl der angeblich behandelten Fälle schönt, aus denen er hypothetische, von der Wirklichkeit widerlegte Wahrheiten ableitet.
Die Biographien der Zeitgenossen Freud und Nietzsche zu vergleichen ist sehr aufschlussreich. Nietzsche war zwölf Jahre älter; doch dies blieb ohne Bedeutung für den Auftritt der beiden auf der philosophischen Bühne. Als Nietzsche 1871 seinen ersten Text, Die Geburt der Tragödie, veröffentlichte, besuchte Freud das Gymnasium. Als der erste Teil der Unzeitgemäßen Betrachtungen erschien, begann Freud das Medizinstudium. Nietzsche vollendete seinen Text über Richard Wagner; Freud erforschte währenddessen in Triest die Sexualität der Aale. Dann erzählte ihm Breuer vom Fall Anna O.; Nietzsche brachte Die fröhliche Wissenschaft heraus. Als Also sprach Zarathustra erschien, besuchte Freud Charcots Vorlesungen. Am Ostersonntag (!) 1886
eröffnete Freud seine Praxis in Wien; in dieser Zeit kam Jenseits von Gut und Böse in die Buchläden. Am 3. Januar 1889 brach Nietzsche in Turin zu Füßen eines Pferdes zusammen und blieb das folgende Jahrzehnt dem Wahnsinn verfallen. Im selben Jahr perfektionierte Freud bei Bernheim in Nancy seine – ziemlich schlechte – Hypnosetechnik. Nietzsche verbrachte die letzten zehn Jahre gelähmt und stumm bei seiner Mutter und später seiner Schwester, die sich seiner bemächtigten, um sein Werk und Denken zu verzerren und den Denker selbst in Richtung des Nationalsozialismus zu treiben. In diesen zehn Jahren, die Nietzsche als lebender Toter verbrachte, schrieb Freud über die hysterische Paralyse, die sexuelle Ätiologie der Hysterie und andere nützliche Themen, vor deren Hintergrund sich Nietzsches Fall untersuchen ließe.
1900 erwies sich als ein symbolisches Jahr. Zu Beginn des neuen Jahrhunderts, am 25. August 1900, starb Nietzsche. Im gleichen Jahr erschien Die Traumdeutung. Man konnte das Buch zwar bereits ab Oktober 1899 kaufen, doch Freud wünschte als offizielles Erscheinungsdatum diesen späteren, besonderen Zeitpunkt. Er sollte seinem Werk Sinn verleihen. Mit diesem Text glaubte Freud, sein Glück gesichert zu haben. Zunächst druckte man 600 Exemplare. In den ersten sechs Jahren wurden nur 123 davon verkauft und erst nach acht Jahren war die Auflage vergriffen. Nietzsches Tod, die Geburt des Nietzscheanismus und die Anfänge der freudschen Lehre fielen also zeitlich zusammen.
Nietzsche kam in den zehn Jahren seiner Umnachtung derart in Mode, dass Freud sich dieser Entwicklung bestimmt nicht entziehen konnte. In dieser Zeit entstanden die Villa Silberblick und die Nietzsche-Archive. Nietzsches Schwester veröffentlichte eine Biographie; die Werke wurden neu aufgelegt. Lou Andreas-Salomés Buch über Werk und Leben Nietzsches als Europäer erschien. Gustav Mahler und Richard Strauss ließen sich von Zarathustra zu Kompositionen inspirieren. Nietzsche erhielt Besuch von
Weitere Kostenlose Bücher