Anti Freud - die Psychoanalyse wird entzaubert
brillanten Absolventen der École Normale, der allerlei Substanzen einnahm, die ihm das Hirn vernebelten, und der auf geniale Weise alles, womit er in Berührung kam, in Text verwandelte, lauerte ein geniales Potential, das nie völlig ausgeschöpft wurde – nämlich eine Psychoanalyse ohne freudsches Unbewusstes, die dem Bewusstsein, dem Für-sich-sein in Sartres eigenen Worten, eine entscheidende Rolle in der Konstruktion des Selbst zuschreibt.
Karl Popper wurde mit La société ouverte et ses ennemies (Seuil, 1945) [ Die offene Gesellschaft und ihre Feinde, Francke, 1957f] zum Begründer des Antitotalitarismus im 20. Jahrhundert. 1972 erschien La Connaissance objective [ Objektive Erkenntnis, Hoffmann und Campe, 1973]. Darin betrachtet er die Psychoanalyse wie die Astrologie oder Metaphysik, also wie einen Weltentwurf, der auf nichtwissenschaftlichen – weil nicht falsifizierbaren – Annahmen beruht.
Ludwig Wittgenstein legte eine ganz eigene Lesart Freuds vor, die zeigt, dass dieser die Welt zwar entmythologisieren wollte, letztlich aber weitere Mythen generierte. Paradoxerweise kann
man Freud und die Psychoanalyse deshalb als postmoderne Mythologien begreifen. Man lese dazu Conversations sur Freud sowie das darauffolgende Conférence sur l’éthique in Leçons et conversations (Idées-Gallimard) [ Vorlesungen und Gespräche über Ästhetik, Psychologie und Religion, Vandenhoeck und Ruprecht, 1971]. Rush Rhees berichtet darin: »Er hielt den enormen Einfluss der Psychoanalyse in Amerika und Europa für gefährlich – ›und dennoch haben wir lange gebraucht, bis wir unsere Unterwürfigkeit ihr gegenüber verloren‹. Wer etwas über Freud lernen will, braucht eine kritische Haltung, und gerade von dieser bringt einen die Psychoanalyse normalerweise ab.« (S. 88)
Gilles Deleuze äußerte sich in seinem Abécédaire sehr derb gegen Wittgenstein und dessen Anhänger. Doch auch er kannte Jaspers’, Sartres, Poppers, Politzers und Wittgensteins Texte zum Thema. Er hatte auch Reich und Marcuse gelesen und zitierte sie häufig in Anti-Œdipe (Minuit, 1972) [ Anti-Ödipus, Suhrkamp, 1974], einem Text, dessen Genialität weniger in den dort vorgetragenen Gedanken liegt als darin, dass er dem Happening, der Performance und dem Fluxus verpflichtet ist, sowie in einer speziellen Sprache verfasst ist, die damals sehr in Mode war. Deleuzes und Guattaris Kritik an Freud und der Psychoanalyse betrifft die Begierde. Die Philosophie der Begierde von Deleuze und Guattari setzt auf positive Handlungen anstatt auf Kastration, Vater, Mutter und Phallus. In einem Gespräch über die Begierde sagte Deleuze: »Machen Sie keine Psychoanalyse, tun Sie lieber Dinge, die Ihnen angenehm sind.«
Zuletzt ist Jacques Derrida zu nennen. 2001 sagte er in einem Gespräch mit Roudinesco, der Galionsfigur der französischen Psychoanalyse, in Woraus wird morgen gemacht sein? Ein Dialog (Klett-Cotta, 2006, S. 285) in einem Kapitel, das paradoxerweise »Lob der Psychoanalyse« heißt: »Die große freudianische Begrifflichkeit ist sicherlich notwendig gewesen, dem stimme ich zu. Sie war notwendig, um in einem gegebenen Kontext der Geschichte der Wissenschaften mit der Psychologie zu brechen. Doch frage
ich mich, ob dieser Begriffsapparat lange überleben wird. Ich täusche mich vielleicht, aber das Es, das Ich, das Über-Ich, das Idealich, das Ichideal, der Sekundärvorgang und der Primärvorgang der Verdrängung usw. – mit einem Wort, die großen freudianischen Maschinen (Begriff und Wort des Unbewußten darin inbegriffen) – sind in meinen Augen nur provisorische Waffen, ja zusammengebastelte rhetorische Werkzeuge gegen eine Philosophie des Bewußtseins, der transparenten und voll verantwortlichen Intentionalität. Ich glaube kaum an ihre Zukunft. Ich denke nicht, daß eine Metapsychologie der Überprüfung lange standhalten könnte. Man spricht davon schon fast gar nicht mehr.« Hiermit sei es beurkundet.
Für die deutsche Ausgabe zusätzlich verwendete Texte:
Apollodor, Bibliotheke. Götter- und Heldensagen Griechisch/ Deutsch, hg. u. übers. v. Paul Dräger, Artemis & Winkler, 2005.
Binswanger, Ludwig, Erinnerungen an Sigmund Freud, Francke, 1956.
Briefwechsel Sigmund Freud – Ernest Jones, 1908–1939, Originallaut der in Deutsch verfassten Briefe Freuds, Transkription und editorische Bearbeitung v. Ingeborg Meyer-Palmedo, S. Fischer, 1993.
Einstein, Albert, Sigmund Freud, Warum Krieg? Mit einem Essay von
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