Anti Freud - die Psychoanalyse wird entzaubert
Politik, Presse und Verlagswesen innehatten. Dafür wird er von Roudinesco als »versteckter Antisemit« gebrandmarkt. Versteckt heißt so viel wie unsichtbar, obwohl er doch eine ganz reale Person ist. Eine derartige Anschuldigung ist subtil und deutlich zugleich.
Dabei enthält dieses dicke Buch keine einzige antisemitische
Äußerung und keinen Hinweis auf die politische Haltung des Autors. Das Problem liegt an anderer Stelle: Das kurze Vorwort stammt von Jacques Corraze, der als »Ehrenprofessor« bezeichnet wird. Dieser Mann, Philosoph und Mediziner, unterrichtete einst auch Bénesteau. Und er sympathisiert mit dem Front National (FN), mit dem er einmal Sommerkurse anbot; zudem war er Ehrengast im Club de l’Horloge. Der Mann gehört zudem einer Gruppierung an, die für die Wiedereinführung der Todesstrafe eintritt, und zu einer Gesellschaft für Respekt gegenüber der französischen Identität. Als Bénesteau Roudinesco wegen des Antisemitismusvorwurfs vor Gericht wiedertraf, ließ er sich von Wallerand de Saint-Just verteidigen. Dieser ist Anwalt von Jean-Marie Le Pen und stand 2001 ganz oben auf der Liste des FN in Soissons. François Aubral, zusammen mit Xavier Delcourt Autor von Contre la Nouvelle Philosophie, setzte sich für Bénesteau ein, distanzierte sich jedoch von Corraze.
Es ist schwer, gute kritische Arbeit von politischer Verblendung zu trennen. Die hier besprochenen Bücher versinken in einem reaktionären, konservativen, manchmal rechtsextremen Kontext. Obwohl sie Freuds Legendenbildung zu Recht kritisieren, konnten sie sich in der Öffentlichkeit nicht durchsetzen. Jede Kritik an Freud und der Psychoanalyse läuft Gefahr, in diesem Kontext betrachtet zu werden, solange sich die »Rechten« die Debatte zu eigen machen.
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Recht haben mit den Linken. Zum Glück gibt es auch Kritiker der Psychoanalyse, die sich jenseits solcher Verblendung bewegen und deren Texte den Leser nicht zwingen, sich zwischen der Richtigkeit einer kritischen Analyse und deren rechtskonservativer Vereinnahmung zu entscheiden. Solche Texte beweisen, dass die Kritik an der Psychoanalyse kein Vorrecht der Konservativen,
der Reaktionäre oder der – bekennenden oder heimlichen – Rechtsextremen ist.
Das gilt zum Beispiel für die Vertreter des Freudomarxismus, die meine Sympathie genießen. Wilhelm Reich, dessen Fonction de l’orgasme (L’Arche) [ Die Funktion des Orgasmus, S. Fischer, 1976] meine Jugend bereichert hat, wie auch Psychologie de masse du fascisme (Payot) [ Die Massenpsychologie des Faschismus, S. Fischer, 1991] und L’Irruption de la morale sexuelle (Payot) [ Der Einbruch der sexuellen Zwangsmoral, S. Fischer, 1986]. Gérard Guaschs Biographie Wilhelm Reich. Biographie d’une passion verschweigt das tragische Ende nicht: Reich wurde wahnsinnig. Die autobiographischen Texte Reichs, Passion de jeunesse (L’Arche) [ Leidenschaft der Jugend, Kiepenheuer und Witsch, 1994] und Reich parle de Freud (Payot) zeigen, was Reich von Freud übernommen hat – die Psychoanalyse als Notwendigkeit –, worüber er hinausgeht – Freuds ahistorische Haltung – und was sein eigener Vorschlag ist – militantes politisches Handeln. Jean-Michel Palmier bietet mit Wilhelm Reich (10/18) eine gute Einführung.
1959 erstellte Erich Fromm in La Mission de Sigmund Freud (Éditions Complexe) [ Sigmund Freuds Sendung, Ullstein, 1961] ein interessantes Inventar und verschwieg nicht, dass Freud sich gegenüber den autoritären Regimen wie ein Mitläufer verhielt. Ein Jahr vor der Machtergreifung durch Hitler habe Freud, verzweifelt angesichts der Unmöglichkeit einer Demokratie, die Diktatur einer Elite aus mutigen und opferbereiten Männern für die einzige Lösung gehalten (S. 93). Grandeur et limites de la passion freudienne (Robert Laffont) [ Sigmund Freuds Psychoanalyse – Größe und Grenzen, München, 1986] zeigt die Probleme der Psychoanalyse auf, von ihrer realitätsfernen Epistemologie über die Konzeption von Unbewusstem, Ödipuskomplex, Übertragung, Narzissmus und Traumdeutung bis zu ihrer Verwandlung in eine »Adaptationstheorie«. Fromm verteidigte die »Biophilie« und griff die »Thanatophilie« an. Zum ersten dieser beiden
Hauptkonzepte lese man Aimer la vie (Epi) [ Über die Liebe zum Leben, München, 1987], zum zweiten La Passion de détruire. Anatomie de la destructivité humaine (Robert Laffont) [ Anatomie der menschlichen Destruktivität, Rowohlt, 1996].
Schließlich ist Herbert Marcuse
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